Der gute Amerikaner
Die New Yorker sind umgeben
von Medien. Dennoch braucht es eine
Sprechstunde mit Starjournalist Seymour Hersh, um ihnen die Augen über ihr Land zu
öffnen, schreibt Eva
Schweitzer in ihrer New York-Kolumne
New York ist so global vernetzt wie vermutlich keine andere Stadt
der Welt. Hier gibt es 350 Fernsehkanäle
bis hin zu
BBC und Al Jazeera, Internet über Kabel,
DSL oder WiFi, Zeitungen aus Übersee,
AP, Reuters, die New York Times und die Nachrichtenstudios
von CNN, Fox und NBC. Trotzdem scheint selbst
New York manchmal seltsam unverbunden mit der Welt. "Plato hat sich
seine Mitmenschen so vorgestellt
wie Gefangene in einer Höhle, die all das, was draußen geschieht, nur als das flackernde
Licht des Feuers, das an den Wänden flackert, wahrnehmen, und als Schattenspiel von draußen", schreibt der Journalist Mort Rosenblum. Ungefähr so, meint er, ist Amerika noch heute.
Manchmal aber bricht
ein Säbelzahntiger in die Höhle ein und bringt
echte Nachrichten. So wie am Samstag, als Sy Hersh
beim Festival des US-Magazins
New Yorker im Kinosaal der Director‘s Guild auftrat.
Seymour Hersh berichtet für den New Yorker darüber, was das Pentagon und die CIA da draußen treiben,
im Irak, in Afghanistan und
im Iran. Mehr als 500 Leute
sind gekommen (und haben bezahlt), um davon aus erster
Hand zu hören. Erstaunlich in einer Stadt, in der die Medien einander auf die Füße treten.
Hersh sitzt auf der Bühne, völlig unprätentiös,
leger gekleidet und scherzt mit seinem
Chefredakteur David Remnick. Dabei sagt
er die unglaublichsten Sachen. Iran? Ja,
ein Schlag gegen den Iran stehe bevor (das hat Hersh auch kürzlich
im New Yorker berichtet), aber gegen kleinere
Ziele, Trainingslager, die revolutionären Garden. "Die USA haben
Spezialisten an den Grenzen,
die mithilfe von kurdischen
und israelischen Profis 'lauschende Ziegel' in Gebäude in Teheran einbauen können. Wir wissen,
was im Iran passiert",
sagt Hersh. Die Atombombe, das dauere noch fünf
Jahre. Bedrohlich sei die Bombe —vor allem für Israel, denn sie bedeute
das Ende des Zionismus. "Wenn der Iran die Bombe hat, gibt die Mittelklasse auf und sagt, 'Wir gehen lieber
nach Argentinien oder London, wo wir in Ruhe leben
können.'"
Der Terrorkrieg? "Wenn herauskommt, was in Guantanamo Bay wirklich passiert, werden wir alle
sehr beschämt sein." Auch über Abu Ghraib.
"Irakische Mädchen,
die dort gefangen sind, haben ihre
Väter angebettelt, sie zu töten,
weil sie entehrt wurden. Ich habe Fotos
gesehen, wie GI‘s nackte Irakerinnen beim Duschen begrabschen."
Und es gebe zwölf Länder, wo die CIA foltern dürfe. Oder deren lokale Auftragsnehmer. "Danach
verbrennen sie die Körper, damit keine
Spuren gefunden werden können."
Dann
kommt Seymour Hersh auf
Vietnam zu sprechen. Die erste große Story es Journalisten war das Massaker von My Lai —, und er erzählt, wie dort gefoltert wurde, mit Elektroschocks.
"Aber in den USA hat es danach keine
Learning Curve, keinen Lernprozess
gegeben."
George Bush? "Bush ist nicht
gut für die Sicherheit der USA oder der
Welt", sagt Hersh.
Aber eigentlich habe er von Bush kein klares Bild.
"Cheney, ja, dessen Musik kann ich
mir vorstellen, aber Bush?" 'Messianisch' sei offenbar der
neueste Begriff, Bush zu beschreiben, "was ist das, Stufe
13 eines 12-stufigen Abstinenzprogramms?"
Hersh überlegt nochmal.
"Bush ist wie Trotzki, ein ewiger
Revolutionär und komplett unbelehrbar." Und die Demokraten?
"Wenn die sich nicht endlich zusammenreißen,
können sie die Wahl noch verlieren."
Hershs Stärke sind seine Quellen, und die
kommen aus dem Apparat, dem
Militär, den Geheimdiensten.
„"Wir zitieren niemanden, der nicht auch bereit
ist, mit
einem Factchecker des New
Yorker zu sprechen." Das schrecke manche ab, die Angst vor der Rache der
Regierung haben. Hersh zitierte einmal einen Arabisch-Übersetzer
des Pentagon, der bekam danach fünf Anrufe
aus dem Stab des damaligen Pentagon-Vize Paul Wolfowitz,— was ihm denn einfiele,
mit Sy Hersh
zu reden. Solche Kritik ficht
ihn nicht an. "Ich bin ein genauso
guter Amerikaner, wie es diese
Leute sind."
Dann
leistet sich Hersh noch ein
paar Seitenhiebe. Das US-Fernsehen,
die Networks? Die seien kaum
mehr von der Satiresendung "Daily Show" zu
unterscheiden. Die New York Times? In
Anbetracht ihrer Kapazitäten hätte sie zu Anfang
des Irakkriegs mehr leisten können. "Aber jetzt
sind nur noch ein paar
dutzend westliche Journalisten im Irak", sagt Hersh. "Die Times hat schon
mehrere irakische Fixer —-
die Reporter vor Ort, die die
eigentliche Arbeit machen -— verloren." Das Internet? Das Internet findet Hersh
großartig. "Damit werden unsere
Geschichten binnen Stunden weltweit verbreitet."
Die Schlange
von Menschen, die Hersh Fragen stellen wollen, reißt nicht
ab, aber pünktlich ist
Schluss. Remnick guckt auf die Uhr. Draußen brennt die Oktobersonne auf die bunten Videodisplays der Medientürme von Manhattan. Wir sind wieder
Höhlenmenschen, die versuchen,
das Flackern zu entziffern. Es wirkt besorgniserregend, so viel ist
klar.
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