Retreat from the Middle

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Die Frankreich-Wahl zeigt: Radikale geben heute den Ton an, nicht mehr Moderate

Es gab Zeiten, in denen Parteien nichts lieber taten, als in der Mitte der politischen Landschaft zu campieren. Obwohl sie sich dort beherzt auf die Zehen traten, wussten doch alle, dass Wahlen in der Mitte – und nur dort – zu gewinnen sind. Dieser Tage hat sich die Lage deutlich geändert. Mit moderaten Ansichten und einigermaßen verantwortungsvollen politischen Programmen ist kein Blumentopf mehr zu holen. Stattdessen machen zentrifugale Kräfte das Spiel, die mit aller Macht nach links, nach rechts oder auf der Direttissima in die Antipolitik streben.

Natürlich, die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in Frankreich war vor allem ein Referendum gegen Nicolas Sarkozy. Ihn hatten die Bürgerlichen 2007 gewählt, um einen respektablen Präsidenten im Élysée zu haben. Bekommen haben sie stattdessen ein hyperaktives Springinkerl, das in Frankreich viel macht, nur keine konsistente konservative Politik.

Aus den Zahlen lässt sich aber auch eine eklatante Radikalisierung des Elektorates herauslesen. Linke und Rechte zusammengezählt, liegt der Anteil jener, die das etablierte System in Frankreich zerschlagen wollen, bei rund 30 Prozent. Und den Wählern von Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon geht es dabei nicht nur um den schieren Protest, viele von ihnen glauben tatsächlich an die kruden Slogans gegen die Finanzmärkte, die EU und das Establishment. Für die Stichwahl wird das bedeuten, dass François Hollande und Nicolas Sarkozy ihren politischen Kurs jeweils glaubhaft weiter nach links und nach rechts trimmen müssen.

Welche Konsequenzen das zeitigt, lässt sich in den Niederlanden beobachten oder auch in Belgien und Österreich, wo dümmlicher Populismus beinahe schon zum guten politischen Ton gehört. Von dieser Lage profitieren aber auch Bewegungen wie die munter dilettierende Piratenpartei in Deutschland, das Movimento des italienischen Kabarettisten Beppe Grillo, das im erodierenden italienischen Parteiensystem laut Umfragen bereits auf dem dritten Platz sein soll, oder die fundamentalistischen Eiferer der Tea Party in den Vereinigten Staaten.

Die bedrohlichste Folge dieser Flucht aus der Mitte ist ein immer schwieriger zu erfüllender Interessenausgleich in Demokratien westlichen Zuschnittes. Denn wo Extremisten den Ton angeben, wird der Kompromiss schwierig. Und wo der Kompromiss als demokratischer Wert an sich nur noch bedingt möglich ist, dort ist die Demokratie selbst in Gefahr. Das vor allem müssen sich jene Politiker sagen lassen, die der Versuchung extremistischer Rhetorik leichtfertig nachgeben, statt der politischen Vernunft eine Stimme zu geben.

Was das bedeuten kann, lässt sich seit zwei Jahren vor allem in den USA ablesen, wo das politische System durch die Härte der republikanischen Positionen im Kongress dysfunktional geworden ist. In Washington geht kaum noch etwas, weil es keinen “common ground” mehr gibt, auf dem gemeinsame Abmachungen getroffen werden könnten. Das wird so bleiben, so lange die Schreihälse der Tea Party die politische Debatte prägen.

Die Frage ist, ob die Vettern dieser Schreihälse aller Couleur auch in Europa den politischen Diskurs derart kapern können, dass die Wähler taub und blind für das Wesentliche werden: Umstürze sind keine Sache der Demokratie, ihr Wesen ist der Kompromiss in der Mitte der Gesellschaft.

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