Dreams Made of Glass

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Neue Cyberwelt oder Horror der Totalüberwachung – die Google-Brille kann beides sein

Die Idioten sind längst unter uns. Sie laufen plappernd durch die Straßen, normal wirkende Mitmenschen, die plötzlich ins Leere sprechen. Ist er etwa … fragt man sich, schaut hin, bis derjenige den Kopf dreht, und über seinem Ohr klemmt – ein Headset. Ach so. Der vermeintliche Idiot hat nur telefoniert.

Es wird bald mehr von diesen Mitmenschen geben, und sie werden mit ihren Brillen sprechen. Irgendwann in den nächsten Monaten werden sie auftauchen, die ersten Exemplare der Google Glass. Ihre Träger werden so harmlos aussehen wie Sergey Brin kürzlich in der U-Bahn. Auf dem Schnappschuss, den ein Fahrgast ins Internet gestellt hat, sitzt der milliardenschwere Google-Mitgründer bärtig, mit Wollmütze auf dem Kopf und einer Plastiktüte in der Hand in einem Zug in New York. Sein Brillengestell ist auf der einen Seite etwas dicker, sonst wirkt es auf den ersten Blick recht normal – bis auf den Umstand, dass diese Brille keine Gläser hat.

Heimlich fotografiert

Die Hightech-Sehhilfe verbindet sich mit dem Internet und hat eine Kamera, sie zeichnet Bilder und Töne auf und reagiert auf Sprachbefehle. Der wichtigste Teil von Glass ist ein kleiner durchsichtiger Würfel über dem rechten Auge – der Bildschirm. Deshalb wohl stiert Brin auf dem Schnappschuss, anders als viele Menschen in den U-Bahnen in New York oder Berlin, auch nicht runter auf den Touchscreen eines Smartphones, er schaut nach vorne. Vielleicht sieht er sich eine Excel-Tabelle auf seinem Bildschirm an. Vielleicht filmt er auch den Fotografen, ohne dass der das mitbekommt.

Diese Möglichkeit des unbemerkten Beobachtens löst Unbehagen aus. Ein Café in Seattle hat bereits ein Glass-Verbot ausgesprochen, in London wurde die Kampagne „Stop the Cyborgs“ gestartet. Denn was lange nur wie ein skurriles Steckenpferd wirkte von Sergey Brin, der die Tüftler-Abteilung Google X leitet, wird nun massentauglich. Die ersten normalen Nutzer durften sich vor einigen Wochen um ein Glass-Modell bewerben – für 1 500 Dollar. Doch Analysten rechnen damit, dass Glass und ähnliche Produkte bald für 400 Dollar zu haben sind.

Sind wir also bald umgeben von filmenden Mitmenschen?

Die Anwendungsbereiche scheinen tatsächlich nahezu grenzenlos. In Werbevideos von Google tragen sie Menschen bei der Ballonfahrt, beim Trapezkunststück oder Heiratsantrag, die Videoaufnahme aktivieren sie durch den Befehl: „Brille, aufnehmen“. Videos und Fotos können über eine Internet-Verbindung direkt bei Facebook gepostet oder live übertragen werden. Glass kann mit Pfeilen aber auch zum nächsten Buchladen navigieren, eine eingehende E-Mail vorlesen oder nachsehen, wie Schalke gegen Dortmund gespielt hat.

Die Designerin Diane von Fürstenberg hat die Google-Brille auf der Fashion Week in New York getragen, Models und Freunden aufgesetzt und so ein ästhetisch recht fesselndes Filmchen produziert – die Modewelt aus der Egoshooter-Perspektive (auf Youtube unter „DVF trough Glass“). Es gibt kaum eine Berufsgruppe, der eine Glass nicht weiterhelfen würde: Polizisten („Brille: Fahrzeughalter scannen und überprüfen“), Ärzte im OP („Brille: Zeig mir die Anatomie der rechten Herzkammer“), Anwälte („Brille: Google Paragraf 16 StGB“), Fußball-Schiedsrichter („Brille: Zurückspulen“) … und es braucht weder viel noch spezielle Phantasie, um den Einsatz im Porno-Bereich vorherzusagen.

Die Internetnutzung soll dank Glass wieder sozialer und männlicher werden, hat Brin angekündigt. Nachdem er eine Weile die Brille benutzt hatte, sei ihm aufgefallen, wie merkwürdig und „entmannend“ es sei, wenn Menschen mit Augen und Fingern die ganze Zeit an Touchscreens kleben. Das Verständnis von Männlichkeit mag diskussionswürdig sein. Aber wem das absurd erscheint, dem sei ein Besuch auf dem Tumblr-Blog „We never look up“ empfohlen – Fotos von Digital-Autisten, die sich weltvergessen über Bildschirme krümmen.

Mit Google Glass werden die Menschen ihre Blicke tatsächlich wieder in die Welt und auf die Mitmenschen richten, doch genau das löst die Beklemmung aus. Jeder Blick eines Mitmenschen ist ein potenziell aufzeichnender. Und an der Brille warnt kein rotes Lämpchen davor, wenn die Aufnahme läuft. Das ist der real existierende Überwachungsstaat, warnen einige Beobachter. Zwar regelt, wie Maik Söhler in der taz angemerkt hat, das Persönlichkeitsrecht schon jetzt, dass nicht jeder Fotos von jedem veröffentlichen kann. Doch wie steht es mit nicht-öffentlichen Bildern? Verlangt schon bald die Etikette, vor einem vertraulichen Gespräch die Brille abzulegen?

Die fabelhafte Serie „Black Mirror“ zeigt, was uns bevorstehen könnte. Die Hauptfigur der dritten Episode ist der Anwalt Liam, der wie alle seine Freunde ein Implantat hinter dem Ohr trägt, mit dem er alles aufzeichnet. „Organischen Erinnerungen“ misstraut er – und spult sich, als er einen Verdacht hegt, so lange durch sein Bildarchiv, bis er endlich einen Beweis für den Seitensprung seiner Ehefrau findet.

Eifersüchtig auf der Suche

Die wahren Horrorszenarien betreffen aber wie immer nicht den privaten Bereich. Angesichts von Drohnen mit hochauflösenden Kameras und Gesichtserkennungssoftware und Datenzentren, in die gesamte Kommunikation der USA in Echtzeit überwachen, sei Googles Brille nun wirklich das kleinere Problem, schreibt Jon Evans auf Techcrunch. Mit den Brillen können der Bürger den Staat immerhin „zurücküberwachen“. Aber welches Gesetz regelt, wann der Staat Zugriff auf die Datenbanken aller Glass-Nutzer erhalten darf, etwa zur Beweissicherung bei Schwerverbrechen? In der Episode von „Black Mirror“ müssen Reisende am Flughafen den Zollbeamten anlasslos im Schnelldurchlauf vorspielen, was sie erlebt haben. „Alles wunderbar, gute Reise“, wünscht der Uniformierte, nachdem er sich davon überzeugt hat, dass der Bürger sich tadellos verhalten hat. Lücken mit gelöschten Stellen im Videogedächtnis hätten sicher seine Aufmerksamkeit erregt.

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