Loss of the Old Order

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Die postamerikanische Welt ist gefährlich: Die USA sind nicht mehr in der Lage, die viel geschmähte und doch unverzichtbare globale Ordnungsmacht zu spielen. Deshalb drohen Instabilität und Chaos. Die Situation in Syrien zeigt, was passieren kann, wenn ein Hegemon fehlt. Und auch Europa wird ein Problem bekommen.

Madeleine Albright könnte eigentlich hochzufrieden sein. Denn ihr vor Jahren geprägter Satz von den USA als der “indispensable nation” wird gegenwärtig durch den Gang der Geschichte als richtig bewiesen. Da dies aber durch einen negativen Beweis geschieht, nämlich durch den Verlust dieser Rolle, durch die Abwesenheit der USA in einer dramatischen Krise, nämlich in Syrien, wird sich die ehemalige Außenministerin der Vereinigten Staaten darüber nicht freuen, sondern eher in großer Sorge sein.

Vor unseren Augen nimmt gegenwärtig eine postamerikanische Welt Gestalt an, die allerdings nicht durch eine neue Ordnung abgelöst wird, sondern vielmehr durch machtpolitische Ambivalenzen, Instabilität, ja Chaos. Das ist eine sehr unerfreuliche, bisweilen sogar gefährliche Perspektive, die in Zukunft selbst eingefleischte Antiamerikaner noch nach der alten globalen Ordnungsmacht wird rufen lassen.

Die USA sind sowohl subjektiv als auch objektiv nicht mehr willens und auch nicht mehr in der Lage, die viel geschmähte und zugleich unverzichtbare globale Ordnungsmacht zu spielen. Die Kriege im Nahen und Mittleren Osten mit ihren enormen humanitären wie wirtschaftlichen Verlusten, die Finanz- und Wirtschaftskrise, Schuldenlast und eine Neuausrichtung der USA auf die Lösung der inneren Probleme und auf den pazifischen Raum – all diese Erfahrungen und Herausforderungen haben zu der aktuellen Entwicklung beigetragen.

Hinzu kommt noch ein relativer Abstieg des Landes angesichts des Aufstiegs von China und anderer großer Schwellenländer. Die USA werden ihre Neuausrichtung und Neuaufstellung schaffen, da bin ich ziemlich sicher, aber ihr Gewicht, ihre Macht und deren Reichweite werden dennoch in der neuen Welt des 21. Jahrhunderts relativ abnehmen, weil andere stärker werden und dadurch aufholen. Gewiss, die globale Rolle der USA wird nicht in Frage gestellt werden, durch wen auch? China wird noch auf sehr lange Zeit mit seinen inneren Widersprüchen beschäftigt bleiben. Indien? Russland? Gar der europäische Hühnerhof?

In der Region um Syrien fehlt der Hegemon

Das sind alles keine ernsthaften Alternativen zu der globalen Rolle der USA. Aber diese wird keine einsame mehr sein, wie nach dem Ende des Kalten Krieges, und eine erheblich schwächere. Man kann diese aktuelle Veränderung gut in der Rolle nachvollziehen, die das Land in zwei zentralen Regionen der Weltpolitik spielt – im Nahen und Mittleren Osten und im asiatisch-pazifischen Raum.

Im Nahen Osten wird die von den beiden europäischen Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien gegen Ende des Ersten Weltkriegs geschaffene Staatenordnung, die durch den Kalten Krieg übernommen wurde und danach von den USA lange unberührt blieb (nämlich bis zum Irakkrieg 2003), derzeit schwer erschüttert. Die kolonialen Grenzen werden immer mehr in Frage gestellt, und was aus Syrien, Libanon, Irak und Jordanien werden wird, ist kaum zu prognostizieren. Das Potenzial für eine regionale Desintegration und spätere Neuzusammensetzung ist größer denn je. Ein solcher Prozess kann sehr viel Gewalt freisetzen, wie Syrien beweist.

In der Region gibt es keinen neuen Hegemon, wohl aber viele Anwärter darauf: Iran, Türkei, Saudi-Arabien und wer auch immer – die allerdings alle nicht stark genug sind, um die Hegemonie für sich zu entscheiden. Desintegration und hegemoniale Ansprüche zusammen vervielfachen aber das Gewaltpotenzial. Und da keine neue Ordnungsmacht in und für die Region absehbar ist und die alte Ordnungsmacht USA nicht mehr will und nicht mehr kann, droht eine lang anhaltende und zugleich hochgefährliche Konfrontation.

Allerdings, selbst wenn die USA dort erneut militärisch intervenieren würden, reichte ihre Kraft nicht mehr aus, um ihre Ordnung durchzusetzen. Das hieße nichts weniger, als einen weiteren Krieg zu beginnen, dessen negatives Ende bereits vorher absehbar wäre. Und weil man dies in Washington nach dem Irak nur zu gut weiß, wird es sich jede amerikanische Regierung sorgfältig überlegen, ob sie dort das Leben ihrer Soldaten und ihr politisches Schicksal riskieren soll.

Anders sieht die Lage in Ostasien aus, denn dort bleiben die USA präsent, ja sie haben ihr Engagement sogar verstärkt. In Ost- und Südasien haben wir es mit Nuklearmächten (China, Russland, Indien, Pakistan, Nordkorea) oder fast Nuklearmächten (Japan, Südkorea) zu tun, die alle auch in eine bedrohliche hegemoniale Rivalität verstrickt sind. Hinzu kommt der irrationale Faktor Nordkorea.

Die Präsenz der USA verhindert in dieser Region bis dato eine Verschärfung der Konflikte und Rivalitäten, aber dennoch nimmt auch in dieser Region die Unsicherheit zu. Wird China klug, ja weise genug sein, die Region nicht beherrschen zu wollen, sondern auf Ausgleich und Partnerschaft mit seinen großen und kleinen Nachbarn zu setzen? Was wird aus der koreanischen Halbinsel? Was aus Japan, das gegenwärtig verstärkt wieder auf die nationalistische Karte und eine riskante Wette in der Wirtschaftspolitik setzt, deren Ausgang völlig ungewiss ist? Was aus den chinesisch-indischen Beziehungen? Und was aus Pakistan? Zündstoff ohne Ende!

Es wäre keine gute Idee, wenn sich Europa zerlegen würde

Die starke militärische und politische Präsenz der USA in dieser weiten Region wirkt moderierend auf die regionalen Mächte. Denkt man sich die USA dort weg, so wäre die Lage sehr viel gefährlicher, ja dramatisch.

Freilich zeigt diese kurze Analyse auch, dass die neue globale Rolle der USA mit ihren reduzierteren Ressourcen auf interessenbasierte Schwerpunktsetzungen angewiesen sein wird. Und dabei genießt der asiatisch-pazifische Raum eindeutige Priorität.

Diese neue, limitiertere Rolle der USA wirft für deren europäische Partner allerdings die Frage auf, ob man sich in der Sicherheitspolitik weiter den Luxus wird erlauben können, ohne die Hilfe der USA faktisch nicht verteidigungsfähig zu sein. Gewiss, die amerikanische Sicherheitsgarantie wird nicht wertlos, aber zukünftig weitaus schwieriger einzuhalten sein. Und wenn in der postamerikanischen Welt das Risiko von Chaos und dessen Folgen größer ist als die Hoffnung auf eine neue globale Ordnung – und dieses Risiko betrifft vor allem die europäische Nachbarschaft – dann wäre es keine gute Idee, wenn sich Europa zerlegen würde. Das genaue Gegenteil ist vielmehr notwendig.

Joschka Fischer, 65, war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminister und Vizekanzler – und beinahe 20 Jahre lang führender Politiker der Grünen.

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