The Presidents' Malaise

Edited by Anita Dixon

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Die Malaise des Präsidenten

Das Fiasko von Barack Obamas Gesundheitsreform ruft die Notärzte auf den Plan. Macht der Staatskörper eine Krise durch, oder muss man den Grund für die falschen Versprechen in der Person des Präsidenten suchen?

Das große Thema der Sonntagstalkshows vom 17. November war das Fiasko von Präsident Obamas Gesundheitsreform. Auch liberale Leitmedien ziehen den Vergleich mit der Reaktion seines Vorgängers Bush auf die Verheerungen, die der Hurrikan Katrina in und um New Orleans anrichtete. Managementfehler in der Logistik der Nothilfe erzeugten einen Eindruck der Inkompetenz der Zuständigen, der nicht mehr aus der Welt zu schaffen war. Eine ideologische Erklärung der Untätigkeit drängte sich auf: An der Regierung waren Leute, die das Staatshandeln grundsätzlich skeptisch sahen, und als der Staat im Ernstfall, das heißt plötzlich, handeln musste, konnte er es nicht.

Diese psychische Handlungsblockade kann bei Obama und den Spezialisten, denen er die Umsetzung des Gesundheitsreformgesetzes anvertraut hat, ausgeschlossen werden. Es liegt aber nicht fern, den neuen Fall von technischem Versagen der Staatsverwaltung auf einen komplementären ideologischen Grund zurückzuführen: Dürften der Präsident und seine treuesten Anhänger nicht zur Überschätzung der Möglichkeiten staatlicher Verhaltenssteuerung neigen? Es spricht tatsächlich viel dafür, dass die unbedachten Versprechungen des Präsidenten und der Verzicht auf gründliche Tests einer Internetseite, die für alle Amerikaner das Portal zur Gesundheitsversorgung sein soll, als Indizien der Hybris ins Gedächtnis der Bürger eingehen werden – wie Bushs voreiliges Lob für den Chef der überforderten Katastrophenschutzbehörde, das Martha Raddatz bei „This Week“ auf ABC noch einmal einspielte. Wieder liegt die eigentliche Gefahr für das Ansehen der Regierung in der Unterschätzung der Erregungsbereitschaft des Publikums.

Obama hat sich für seine irreführenden Werbebotschaften entschuldigt – und musste damit ein Mittel einsetzen, dessen Wirksamkeit immer fraglich ist, da sich die Empörten durch die mit verquälter Miene vorgetragene Selbstbezichtigung bestätigt sehen müssen. Es fällt immer noch schwer zu erklären, wie Obama überhaupt darauf verfallen konnte, die Garantie auszusprechen, jeder, der es wolle, werde seinen bestehenden Versicherungsvertrag behalten können – wenn doch das Prinzip von Obamacare die Zwangsversicherung ist. Zwar ist die gesetzliche Pflicht, einen Versicherungsvertrag abzuschließen, nicht ausdrücklich statuiert. Wer sich nicht versichert, nimmt ein Bußgeld in Kauf und bleibt insofern „frei“, statt der Kosten der Versicherung die Kosten der Nichtversicherung zu tragen – wie ein Falschparker, der beim Preis für den Restaurantbesuch in einer belebten Innenstadtgegend das Knöllchen von vornherein einberechnet. Dieses Argument war für den Obersten Gerichtshof wichtig, in dem fünf der neun Richter der Meinung sind, die Bundesregierung dürfe die Bürger nicht zum Kauf einer bestimmten Dienstleistung verpflichten.

Doch diese normativen Spitzfindigkeiten müssen akademisch bleiben, wenn das Geschäftsmodell des neuen nationalen Gesundheitssystems funktionieren soll: Regierung und Versicherungswirtschaft sind darauf angewiesen, dass Unterversicherte zur Kostenbeteiligung herangezogen werden. Die republikanischen Parteiführer im Kongress, denen weite Teile der Öffentlichkeit unlängst die Schuld an der vorübergehenden Zahlungsunfähigkeit der Bundesverwaltung zuwiesen, bemühen sich derzeit noch, eine Rhetorik der verbrannten Boote zu vermeiden. Sie reden nicht wie Liz Cheney, die dem Präsidenten bei „Fox News Sunday“ vorwarf, über den Inhalt des Affordable Care Act gelogen zu haben. Es wäre ein törichter Täuschungsversuch gewesen, der mit dem Stichtag für die Anwendung der neuen Regelungen hätte auffliegen müssen.

Die Tochter des früheren Vizepräsidenten will Senatorin für Wyoming werden und muss in der Vorwahl einen Amtsinhaber schlagen, dem konservative Lobbyorganisationen ein tadelloses Stimmverhalten bescheinigen. Liz Cheney geht nach dem Rebellionshandbuch der Tea Party vor: Sie denunziert Obama als Betrüger, um einen Gegner des Präsidenten wie Senator Mike Enzi als Kollaborateur hinzustellen. Die radikalen Republikaner reden sich gerade wieder in einen Impeachment-Feldzug hinein.

Doch wenn Obama nicht die Unwahrheit über das mit seinem Namen verwachsene Gesundheitsprogramm sagen wollte, welchen Reim will man sich dann auf seine Fehlleistung machen? War das unhaltbare Versprechen nur ein Versprecher? Das legte ein Leitartikel der „New York Times“ nahe: „Mr. Obama clearly misspoke.“ Die Ombudsfrau der Zeitung kritisierte diese Formulierung – einem Redner wird schwerlich in jeder Rede derselbe Versprecher unterlaufen. Zugunsten des Präsidenten möchte man annehmen, dass ihm der Glaube an die Perfektion des Gesetzes seine unklugen Worte eingab. Er konnte getrost jedermann die Zusage der Option des Festhaltens am alten Versicherungsschutz machen, weil er überzeugt war, dass kaum jemand die Option einlösen werde. Ähnlich kalkuliert der Einzelhandel seine Umtausch- und Geld-zurück-Garantien.

Das neue Versprechen, das Obama am Donnerstag abgab, der Aufschub des Inkrafttretens der Mindeststandards, denen viele Altverträge nicht genügen, verschiebt das Problem um ein Jahr. Senator John Barrasso, Mike Enzis Kollege und Parteifreund aus Wyoming, verwendete bei „State of the Union“ auf CNN das Bild vom „politischen Pflaster“ im Gegensatz zur „dauerhaften Heilung“. Schon bei den Griechen verstand sich die Politik als Nachbardisziplin der Heilkunde. Wilhelm Hennis, der im vergangenen Jahr verstorbene Freiburger Politikwissenschaftler, erinnerte gerne daran, dass Thukydides, der Historiker, der haltbare Grundsätze der Staatskunst ermitteln wollte, ein Schüler des Hippokrates war. Auch das Wort „Krise“ hat einen medizinischen Hintergrund. Wenn eine Gesundheitsreform einen Präsidenten in Schwierigkeiten bringt, wird der Staatskörper als ganzer zum Gegenstand besorgter Untersuchungen.

Die republikanische Senatorin Kelly Ayotte aus New Hampshire beschwor bei „Meet the Press“ auf NBC ein Prinzip der ärztlichen Ethik: Die erste Forderung an eine Therapie sei, dass sie dem Patienten nicht schaden dürfe. Das sollten auch die Gesundheitspolitiker beherzigen. Eine bemerkenswerte Variante des Topos vom Politiker als Haus- und Notarzt brachte Nancy Pelosi, die ehemalige Sprecherin des Repräsentantenhausen, in derselben Sendung ins Spiel. „Was ich an den Menschen schätze, die die Gesundheitsvorsorge zum Beruf gemacht haben, ist die Fähigkeit, ruhig zu bleiben. Wir müssen Ruhe bewahren, während wir über die Gesundheit unseres Landes diskutieren.“ Mit dem Arzt assoziiert man Anteilnahme, Warmherzigkeit, schlechthin das Kümmern. Frau Pelosi scheint sich eher mit den Administratoren der Krankenhäuser und -kassen zu identifizieren – es schreckt sie nicht, als Berufspolitikerin erkannt zu werden.

Trug sie ihre Empfehlung, sich nicht in Rage zu reden, etwas zu ruhig vor? Eine robuste Verteidigung der Ziele und Mittel des Präsidenten bot an diesem Sonntagmorgen nur Jim Clyburn, der schwarze Kongressabgeordnete aus South Carolina, der die dritte Stelle in der Fraktionshierarchie der Demokraten im Repräsentantenhaus bekleidet. Sarkastisch sagte er, für die Wähler in seinem Wahlkreis sei normal, was jetzt als die Katastrophe von Obamacare dargestellt werde: von der Krankenkasse einen Kündigungsbrief zu bekommen. Jede Krankheit, ja sogar eine Schwangerschaft diene als Grund für die Beendigung des Vertragsverhältnisses. Genau diesen Missstand solle das neue System der privatwirtschaftlichen Pflichtversicherung beseitigen.

Nicht viel mehr als fromme Wünsche hatten die anderen demokratischen Sprecher auf die von allen Moderatoren gestellte Frage zu bieten, ob der Präsident das verlorene Vertrauen zurückgewinnen könne. Mit einem literarischen Zitat brachte Clyburn zum Ausdruck, dass er die Aufregung für künstlich hält: „Verlorenes Paradies, wiedergewonnenes Paradies.“ Was verloren ist, kann per definitionem wiedergefunden werden. Die Titel der beiden Epen von John Milton ergeben sozusagen eine Übersetzung von Herbert Wehners Urgesetz der demokratischen Politik: „Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen.“ Es rumort im Bauch des Volkes. Clyburn nimmt an, dass die Verstimmung sich von selbst wieder legen wird, und verschreibt dem Präsidenten Gelassenheit.

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