2 Million US Jobs Have Been Cut

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Billige Importe aus China haben in den USA zu einem gewaltigen Verlust an Jobs in der Industrie geführt, sagt der Zürcher Ökonom David Dorn. Die Betroffenen wählten häufig weit rechts oder weit links.

NZZ am Sonntag: Ihre Forschungsarbeiten zeigen, dass chinesische Importe in den USA Millionen von Arbeitsplätzen vernichtet haben. Woran liegt das?

David Dorn: Seit den 1980er und 90er Jahren ist China von einem Land, das fast vollständig von der Weltwirtschaft abgeschottet war, zu einem äusserst erfolgreichen Produzenten von Gütern für den Weltmarkt aufgestiegen. Dadurch sahen sich In-dustriefirmen in den USA und in Westeuropa einer rasch wachsenden Konkurrenz ausgesetzt. Zusammen mit zwei amerikanischen Kollegen habe ich gezeigt, dass wegen des Handels mit China in besonders betroffenen Gebieten der USA massiv Stellen gestrichen wurden, die Durchschnittslöhne gesunken und mehr Menschen von staatlicher Unter-stützungsleistung abhängig geworden sind.

Von wie vielen Arbeitsplätzen sprechen Sie?

Unsere Schätzungen besagen, dass aufgrund der chinesischen Importe seit Ende der 1990er Jahre in den USA rund 2 bis 2,4 Millionen Arbeitsplätze abgebaut worden sind.

Liegt das wirklich nur an China?

Der amerikanische Industriesektor war auch von der fortschreitenden Automatisierung und der grossen Rezession der Jahre 2007 bis 2009 stark betroffen. Der Handel mit China erklärt rund einen Viertel des gesamten Beschäftigungsrückgangs in diesem Sektor.

Wie sind Sie bei Ihrer Forschung vorgegangen?

Wir haben analysiert, wie sich Hunderte von Branchen und geografischen Regionen über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelt haben. Aufgrund ihrer Wirtschaftsstruktur sind diese Branchen und Regionen in ungleichem Masse von steigender Import-Konkurrenz oder Automatisierung betroffen. Dadurch wird es möglich, die unterschiedlichen Beschäftigungswirkungen von Handel, Technologie und anderen Faktoren auseinanderzuhalten. Wir haben detaillierte Daten der staatlichen Sozialversicherungs-behörde genutzt, um die Erwerbskarrieren von Personen zu untersuchen, deren Arbeitgeber besonders stark dem internationalen Handel ausgesetzt waren.

Ihre Erkenntnis steht quer zur ökonomischen Theorie, die besagt, dass bei der Globalisierung die Gewinne der Exporteure die Verluste möglicher Verlierer bei weitem übertreffen.

Zunächst belegen wir, dass es neben den Gewinnern tatsächlich auch Verlierer gibt. Lange Zeit hatte man auch aufgrund theoretischer Modelle die Vorstellung, dass die Gewinner die Verlierer immer kompensieren können. Dass also Unternehmer und Konsumenten, die vom Handel profitieren, Arbeiter entschädigen, die ihre Stelle verlieren. Gerade in den USA zeigt sich, dass dieser Ausgleich nur sehr eingeschränkt stattfindet. Dazu kommt, dass man lange dem Irrglauben anhing, die USA hätten einen enorm flexiblen Arbeitsmarkt. Mittlerweile ist empirisch erwiesen, dass auch in den USA manch ein Stellenverlust zu lang andauernder Erwerbslosigkeit führt. Oder dass betroffene Personen nur zu wesentlich schlechteren Konditionen weiterarbeiten können.

Wie stark ist der Einfluss des Wechselkurses? China hat den Renminbi jahrelang künstlich tief gehalten.

Das wird im politischen Umfeld oft als Argument angeführt. Es gibt aber wenig wissenschaftliche Evidenz, dass der Einfluss des Wechselkurses wirklich bedeutend war. Entscheidend ist, dass China seine Produktivität dramatisch erhöht hat. Zudem wurden Schranken für die interne Mobilität abgebaut. Menschen aus armen, ländlichen Regionen sind in die Küstenstädte gezogen und stellen dort ein grosses Angebot an billigen Arbeitskräften bereit.

In den USA gibt es auch starke Gewinner: Konsumenten sowie milliardenschwere Firmen, die vom Welthandel profitieren. Warum funktioniert der Ausgleich zu den Verlierern nicht?

Der Staat soll Menschen schützen, die ohne eigenes Verschulden ihre Stelle verlieren. Wünschenswert wäre eine spezifische Arbeitslosenversicherung für Personen, deren Stelle der Globalisierung zum Opfer fällt. Ein solches Programm besteht in den USA bereits, aber es ist finanziell unbedeutend. Im Vergleich zu Europa ist der amerikanische Wohlfahrtsstaat wenig grosszügig: Wer arbeitslos wird, droht zu verarmen oder sogar obdachlos zu werden. Auch Gesundheitskosten können zu einem grossen Problem werden. Wir haben gezeigt, dass in stark betroffenen Gebieten auch die Häufigkeit von Eheschliessungen zurückgeht. Wir sehen, dass Kinder öfter in Haushalten mit nur einem Elternteil aufwachsen, häufig unterhalb der Armutsgrenze. Diese Konsequenzen sind besorgniserregend.

Hat die Finanzkrise von 2008 die Situation noch verschärft?

Die Zahl der Beschäftigten im Industriesektor ging schon vorher stark zurück, doch der Immobilienboom liess vorübergehend viele Stellen im Bausektor entstehen, die das Problem überdeckt haben. Die Krise hat die Wahrnehmung der Wirtschaft klar verändert. Lange galt in den USA ein hohes Einkommen als Zeichen der persönlichen Leistung. Inzwischen werden viele der hohen Gehälter nicht mehr als gerechtfertigt angesehen. Ungleichheit ist zu einem grossen Thema aufgestiegen. Es hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die amerikanische Wirtschaft mit grossen Problemen kämpft.

Was bedeutet der Strukturwandel politisch?

Es kommt zu einer Radikalisierung. In Regionen, die unter der Importkonkurrenz aus China gelitten haben, werden mit grösserer Wahrscheinlichkeit Kandidaten gewählt, die weit rechts oder weit links stehen.

Donald Trump kritisiert den Freihandel in markigen Worten. Er sei nicht im Interesse Amerikas. Hat er da einen Punkt?

Zumindest kurzfristig übersteigen für bestimmte Arbeiter und Regionen die negativen Konsequenzen des Handels die positiven Wirkungen. Bevölkerungsgruppen, die früher gutbezahlte Stellen hatten, sehen einer ungewissen Zukunft entgegen. Der soziale Abstieg führt zu einer grossen Politikverdrossenheit.

Trump schlägt einen Importzoll von 45% auf Güter aus China vor. Was halten Sie davon?

Wenn ein Land einseitig einem anderen Land Strafzölle aufbürdet, zieht das weitere, problematische Verwerfungen nach sich. Und es ist nicht klar, dass die verlorenen Arbeitsplätze wieder zurückkehren. Wenn Fabriken erst einmal dauerhaft geschlossen sind, ist es schwierig, sie wieder zu öffnen. Beschränkt sich der Zoll auf chinesische Güter, würden wohl vor allem die Importe aus anderen Ländern wie Vietnam, Indonesien oder Bangladesh stark zunehmen.

Wären Importzölle vor 20 Jahren sinnvoll gewesen, um die negativen Folgen zu mildern?

Eine schrittweise Liberalisierung hätte vermutlich zu geringeren Anpassungskosten geführt.

Warum ist die Schweiz vom Aufstieg Chinas viel weniger betroffen?

Die Schweiz ist gut positioniert in Branchen, die China als Absatzmarkt erschliessen konnten. Dazu gehören der Pharmasektor, die Maschinenindustrie sowie Uhren und Luxusgüter. Der amerikanische Industriesektor produziert jedoch vor allem für den amerikanischen Markt. Er hat auch in grossem Stil billige Massenprodukte hergestellt, was gutging, bis China zur noch billigeren Konkurrenz wurde. Die Schweizer Wirtschaft ist deutlich spezialisierter und verfügt über gut qualifizierte Arbeitskräfte.

Der Demokrat Bernie Sanders klagt, in den USA seien 2,7 Mio. Jobs an China verloren gegangen. Davon ausgehend stellt er sich auch gegen das geplante Freihandelsabkommen der USA mit der EU. Wie bewerten Sie das?

Es ist sicherlich problematisch, wenn man Resultate, die sich auf den Handel der USA mit China beziehen, auf andere Handelsbeziehungen projiziert. Das Besondere am Handel mit China ist, dass dieses Land ein wesentlich tieferes Lohnniveau als die USA oder Westeuropa aufweist – und deutlich günstiger produzieren kann. Zuvor spielte sich der Grossteil des Welthandels zwischen den USA und Europa oder Kanada ab, also zwischen Ländern, die unter ähnlicheren Bedingungen produzierten. Dabei hat man stärker die positiven Aspekte des Handels verspürt: Deutsche Konsumenten können beispielsweise französische Autos kaufen – und Franzosen deutsche Wagen, ohne dass deswegen die Automobilindustrie in einem dieser Länder zugrunde geht.

Welche US-Regionen wurden am stärksten vom chinesischen Importschock getroffen?

Die stark tangierten Gebiete sind über ganz Amerika verteilt. Der Region um Detroit und die Grossen Seen hat weniger gelitten, weil China die Autoindustrie kaum konkurrenziert. Doch die Textil- und Schuhindustrie, die Herstellung von Lederwaren, Möbel, Spielwaren und Heimelektronik wurden massiv beeinträchtigt. Die Stadt Raleigh in North Carolina hatte das Pech, sich früh auf die Textil-, Möbel- sowie Computerindustrie zu spezialisieren. Diese Branchen gerieten enorm in Bedrängnis durch chinesische Billigimporte. Ebenso getroffen wurde die Industrieproduktion in den Südstaaten um Tennessee, wo mit billigen Arbeitskräften und schwachem gewerkschaftlichem Schutz Textilien hergestellt worden sind.

Könnte Ihre Forschung politisch instrumentalisiert werden, etwa von Gegnern des Freihandelsabkommens zwischen USA und EU?

Es ist durchaus berechtigt, wenn man mögliche Handelsabkommen kritisch evaluiert. Dabei sollte man nicht von der spezifischen Handelsbeziehung zwischen USA und China auf andere Handelsabkommen extrapolieren. Aber man sollte auch nicht naiv annehmen, dass jedes Handelsabkommen automatisch nur Vorteile bringt.

Hat auch das Weisse Haus von Ihrer Forschung Notiz genommen?

Die amerikanische Regierung hat grosses Interesse an unseren Forschungsresultaten gezeigt. Der letztjährige Bericht des Präsidenten zur Wirtschaftslage hat unserer Forschung eine ganze Seite gewidmet. Mein amerikanischer Kollege David Autor, der an den Studien mitgearbeitet hat, wurde zweimal eingeladen, um direkt mit Präsident Obama über unsere Resultate zu sprechen.

Hat das konkrete politische Folgen?

Für die Forschung ist es bereits ein wichtiger Schritt, wenn Entscheidungsträger sich bemühen, das neu erarbeitete Wissen aufzunehmen. Dass der Handel mit China negative Auswirkungen hatte, führt nicht direkt zu einer klaren Handlungsanweisung für die Politik. Denn die erfolgten Arbeitsplatzverluste können nicht einfach wieder rückgängig gemacht werden. In den USA stellt sich die Frage, wie weit man die negativen Folgen auf dem Arbeitsmarkt durch wohlfahrtsstaatliche Massnahmen abfedern kann. Die Regierung Obama hat etwa eine Krankenversicherungspflicht eingeführt. Solche Massnahmen stossen auf heftige Opposition. Man sieht diese sehr unterschiedlichen Ansichten auch im Vorwahlkampf für die Präsidentschaftswahl, bei der Trump auf der einen Seite vorschlägt, mit hohen Zöllen gegen die chinesische Konkurrenz anzukämpfen oder mit Mauern gegen die Migration. Sanders schwebt andererseits vor, sozialstaatliche Institutionen zu entwickeln, die einem europäischen Wohlfahrtsstaat entsprechen.

Die US-Wirtschaft ist in den letzten Jahren um etwa 2,5% gewachsen, die Arbeitslosenquote ist auf 5,8% gefallen. Malen Sie zu schwarz?

In der Öffentlichkeit wird die Arbeitslosenquote als Fieberkurve des Arbeitsmarktes wahrgenommen. Doch der Fokus auf diese eine Messgrösse ist problematisch: Eine Person gilt nur dann als arbeitslos, wenn sie aktiv nach einer Stelle sucht. Alle Personen, die diese Stellensuche aufgegeben haben, fallen aus dieser Statistik. In den USA ist der Anteil aller Menschen, die tatsächlich einer Erwerbstätigkeit nachgehen, von fast 75% im Jahr 2000 auf heute 68% gesunken. Gerade unter niedrig qualifizierten Personen mit geringer Schulbildung gibt es immer mehr Menschen, die gar nie Fuss fassen im Erwerbsleben. Das sind Personen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, die weder einer Ausbildung noch einer Erwerbstätigkeit nachgehen, aber stattdessen ihre Zeit oft mit TV oder Videospielen verbringen.

Die Vorteile Chinas schwinden. Könnten Jobs auch wieder in die USA zurückkommen?

Es gibt in den letzten Jahren immer wieder Medienberichte über Unternehmen, die Arbeitsplätze zurück in die USA verlagern, doch das sind ungewöhnliche Fälle. Wahrscheinlicher ist, dass wir zusehends eine Verlagerung von Arbeitsplätzen aus China in weitere Billiglohnländer sehen werden, die noch nicht so weit entwickelt sind.

Wie lautet Ihre persönliche Wahlprognose – Trump, Sanders oder Hillary Clinton?

Es sieht sehr danach aus, dass Hillary Clinton von der Demokratischen Partei als Kandidatin nominiert wird. Die Meinungsumfragen sagen voraus, dass Clinton danach die Hauptwahl gewinnen sollte. Aber man hat Donald Trump bereits in den Vorwahlen stark unterschätzt. Der Ausgang der Hauptwahl ist darum ziemlich offen.

Zur Person

David Dorn ist 37 Jahre alt und hat bereits fünf Artikel in der «American Economic Review» publiziert, der angesehensten Fachzeitschrift. Dorn ist seit 2014 Professor für Internationalen Handel und Arbeitsmärkte an der Universität Zürich und am UBS Center for Economics. Zuvor war er Assistenzprofessor in Madrid und Gastprofessor an der Harvard University (USA). Dorn ist in Dielsdorf (ZH) aufgewachsen, hat in St. Gallen studiert und mit dem Doktorat abgeschlossen.

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