America Cannot Afford Another Experiment

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Ein weiteres Experiment kann sich Amerika nicht leisten

Die Demokraten müssen sich in den Vorwahlen zwischen zwei Visionen entscheiden. Wollen sie eine Rückkehr zur Normalität oder eine weitere Revolution für die USA?

Was ist die richtige Antwort auf die Ära Trump? Ist nach dem tiefen Einschnitt seiner Wahl und den Turbulenzen in den vergangenen gut drei Jahren eine Rückkehr Amerikas zur Normalität möglich, zu Stabilität, Vernunft und Verlässlichkeit – wie in einem Buch, in dem man eine Seite umblättert? Oder braucht es eine weitere Revolution, weil doch die Unzufriedenheit über diese vermeintliche Normalität dem New Yorker Immobilienmogul erst den Weg geebnet hat ins Weisse Haus? Auf diese Frage reduziert sich letztlich die Ausgangslage für die Demokraten, die in den am Montag beginnenden Vorwahlen einen Herausforderer Donald Trumps bestimmen werden. Zwei Lager mit unterschiedlichen Rezepten stehen sich gegenüber, ein eher gemässigtes und ein prononciert linkes. Ihre Favoriten sind laut den Umfragen dieselben wie bereits zu Beginn dieses intensiven Vorwahlkampfs vor über einem Jahr: der frühere Vizepräsident Joe Biden und Senator Bernie Sanders.

Zwei alte, weisse Männer

Die Demokraten waren einst zuversichtlich in den Auswahlprozess gestartet und bejubelten das breiteste und ethnisch vielfältigste Bewerberfeld, das sie je hatten. Es sollte das bunte Amerika repräsentieren, jene Regenbogenkoalition, die Barack Obama zwei Mal zum Sieg verholfen hatte. Dass Hillary Clinton dieses Bündnis vor vier Jahren nicht im gleichen Ausmass mobilisieren konnte, kostete die Demokraten das Weisse Haus. Umso mehr hadert die Partei nun damit, dass ausgerechnet zwei alte, weisse Männer die besten Chancen auf die Nomination haben. Beide sind gegen 80 Jahre alt, beide kommen aus wohlhabenden Gliedstaaten der Ostküste, beide blicken auf eine jahrzehntelange Tätigkeit im Kongress zurück, dem Inbegriff des politischen Establishments. Und doch ist der zu erwartende Zweikampf die logische Folge dessen, dass die beiden die entgegengesetzten Visionen der Partei am konsequentesten verkörpern. Biden und Sanders führten die Umfragen denn auch ununterbrochen an, mit Ausnahme einer Phase im Herbst, als die ebenfalls dem linken Flügel angehörende Senatorin Elizabeth Warren ihren Rivalen Sanders überholen konnte und für ein paar Tage sogar an Biden vorbeizog.

Abgesehen davon vermochte Biden immer einen beträchtlichen Vorsprung auf die gesamte Konkurrenz zu halten. Das erstaunt insofern, als er gravierende Schwächen hat und selbst bei seinen Anhängern nicht die Begeisterung entfacht, die Sanders oder Warren regelmässig auslösen. Biden ist kein guter Redner, und seine Anfälligkeit für verbale Fehltritte ist legendär. Bereits 1988 und 2008 bewarb er sich um die Präsidentschaftsnomination der Demokraten und scheiterte jeweils kläglich. Vor allem aber bietet er inhaltliche Angriffsflächen, die Zustimmung zum Irak-Krieg 2002 etwa oder den Entwurf einer Strafrechtsreform, die 1994 unter Bill Clinton erlassen wurde und heute von vielen Demokraten als viel zu restriktiv kritisiert wird. Gleichzeitig vermochte Biden in seiner langen politischen Karriere über die Parteigrenzen hinweg Kompromisse zu schliessen und steht damit für eine Versöhnlichkeit, die heute viele gemässigte Wähler schmerzlich vermissen. Zudem erinnert seine geradezu väterliche Freundschaft mit Obama an eine Zeit, in der das Weisse Haus nicht Quelle steter Gehässigkeit und ständiger Skandale war. Biden präsentiert sich als Kandidat der Vernunft und nicht der Leidenschaft, der die grössten Chancen habe, Trump zu schlagen. Diese «Wählbarkeit» ist sein wichtigstes Wahlkampfargument.

Ganz anders Bernie Sanders, der als bekennender Sozialist noch 2016 als krasser Aussenseiter galt und der nicht weniger als eine Revolution für Amerika verlangt. Seine Vorstellungen für den Ausbau der Infrastruktur, das Bildungs- und Gesundheitswesen sowie einen Sozialstaat nordeuropäischer Prägung würden die Staatsausgaben laut Schätzungen verdoppeln und damit auf ein in Friedenszeiten präzedenzloses Niveau heben. Allein sein zentrales Projekt einer obligatorischen staatlichen Krankenkasse für alle Bürger («Medicare for All») und die Abschaffung von privaten Anbietern käme in den USA einem tiefgreifenden Kulturwandel gleich. In aussen- und handelspolitischen Fragen schlägt Sanders dagegen ähnlich isolationistische und protektionistische Töne an wie Trump. Seine inhaltliche Standfestigkeit verleiht «Bernie» Authentizität. Mit seiner radikalen Rhetorik begeistert er besonders junge Wähler, die der Begriff «Sozialismus» nicht mehr abschreckt. Im Gegenteil: 49 Prozent der Amerikaner unter 40 bewerten den Sozialismus laut Umfragen positiv, während der Kapitalismus mit 51 Prozent nur wenig besser abschneidet und in den vergangenen Jahren markant an Zustimmung verloren hat.

Solche Zahlen belegen ebenso die Frustration über die heutige Situation im Land wie die Unterstützung für Sanders auf der Linken und Trump auf der Rechten. Die hervorragenden Wirtschaftsdaten verschleiern, dass die Einkommensschere in den USA auseinandergeht und die Reallöhne für die meisten seit Jahrzehnten stagnieren. Nach wie vor sind Wohngegend und Ethnie von entscheidender Bedeutung für die Zukunftsperspektive der Amerikaner. Knapp 30 Millionen haben immer noch keine Krankenversicherung, zwei Drittel aller Fälle von Privatkonkurs stehen im Zusammenhang mit Gesundheitsproblemen. Mittlerweile sterben jährlich mehr Menschen an einer Opioid-Überdosis als im Strassenverkehr. Das ist mit ein Grund dafür, dass die Lebenserwartung drei Jahre in Folge zurückgegangen ist, was für ein Industrieland in einer Boomphase höchst ungewöhnlich ist. Ist der Wunsch nach einer «Revolution» deshalb nicht nachvollziehbar? Und hat Trump vor vier Jahren nicht bewiesen, dass die Theorie der besseren «Wählbarkeit» völlig überschätzt wird?

Das mag für die Republikaner zutreffen, deren Wählerschaft durch die Polarisierung der letzten Jahrzehnte homogener geworden ist. Fast drei Viertel der republikanischen Wähler bezeichnen sich als konservativ – deutlich mehr als noch vor zwanzig Jahren. Der Rechtsruck der Partei geht damit einher. Bei der demokratischen Basis gibt es zwar ideologisch eine ähnliche Entwicklung nach links, dennoch nennt sich nur gut die Hälfte ihrer Wähler progressiv. Die Demokraten können also die gemässigte Mitte nicht ausser acht lassen. Zudem ist ihre Basis in ethnischer und sozialer Hinsicht deutlich vielfältiger als die der Republikaner. Für einen Wahlsieg im November müssen sie linke Städter in San Francisco ebenso überzeugen wie gläubige Afroamerikaner in North Carolina.

Einst zu radikal – heute die gemässigte Position

Selbst wenn dies Sanders gelingen sollte, wären die Aussichten für die Umsetzung seiner «Revolution» höchst bescheiden. Der Wahlkampf zeigt, wie umstritten seine Positionen innerhalb der Demokratischen Partei sind. Er hätte also bereits Mühe, ein demokratisch dominiertes Repräsentantenhaus zu überzeugen – geschweige denn den voraussichtlich weiterhin republikanischen Senat. Die Folgen wären weitere Jahre der totalen Blockade in Washington und des Vertiefens der politischen Gräben. Ein neuerliches Experiment mit einem zornigen Populisten im Weissen Haus kann sich Amerika nicht leisten.

Ohnehin sind die Demokraten im Zuge der Polarisierung weit nach links gerückt. Augenfällig wird dies in der Gesundheitspolitik, dem wichtigsten Anliegen der demokratischen Wähler. Alle Bewerber plädieren für die Einführung einer staatlichen Krankenkasse. Auch Biden will eine sogenannte «public option» zusätzlich zum bestehenden System mit privaten Anbietern. Mit diesem Vorschlag war Obama 2010 noch gescheitert – trotz demokratischen Mehrheiten in beiden Kongresskammern. Was damals als zu radikal gesehen wurde, entspricht heute der gemässigten Position in der Partei. Ihre Präsidentschaftsanwärter plädieren alle für einen höheren nationalen Mindestlohn, Steuererhöhungen und mehr staatliche Ausgaben im Bildungswesen oder beim Umweltschutz. Wer auch immer die Nomination erringt, wäre der progressivste Kandidat seit Jahrzehnten. Das ist der eigentliche Erfolg Sanders’. Trump weiss dies auszuschlachten und bezeichnet die Demokraten seit Monaten allesamt als radikale Sozialisten, die Amerikas florierende Wirtschaft zerstören und Verhältnisse wie in Venezuela schaffen würden. Das ist Unsinn. Doch der linke Flügel der Partei macht ihm diese Argumentation zu einfach.

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