Edited by Laura Berlinsky-Schine
Der Westen hat in Afghanistan versagt
von Willi Germund
12.01.2010
Die Bemühungen der Nato-Staaten, den Afghanistaneinsatz zu retten, kommen zu spät. Auch ein Abzug kann die Probleme nicht lösen. Anzeige
Da ist der knapp 70-jährige Mann, der den größten Teil der vergangenen 15 Jahre hinter Gittern verbracht hat. Erst wurde er von den radikalislamischen Talibanmilizen verhaftet. Dann landete er in Guantánamo, weil missgünstige Nachbarn ihn beim US-Militär angeschwärzt hatten. Ein paar Monate nach seiner Freilassung fand sich der Mann im Gefängnis von Bagram wieder. Die gleichen Nachbarn, immer noch mit einem guten Draht zu US-Truppen ausgestattet, hatten ihn mit den gleichen fragwürdigen Beschuldigungen bei den gleichen Militärs denunziert. Nun müht sich der gleiche US-Anwalt, der den Greis aus Guantánamo holte, um die Entlassung aus Bagram. Die Verwandten wissen nur eins: Sie werden immer von missmutigen US-Soldaten weggeschickt, wenn sie versuchen, zu US-Stellen vorzudringen und für die Freilassung ihres Verwandten zu plädieren.
So sieht ein Beispiel der Willkür aus, unter der die Afghanen seit der Vertreibung der Taliban im Jahr 2001 und dem Einzug ausländischer Truppen und Diplomaten leiden. Gerechtigkeit und Wahrung von Menschenrechten können die Verwandten des Greises ebenso wenig entdecken wie der junge Journalist in der Nähe der nordafghanischen Stadt Kundus. Er beschreibt die Drangsalierung durch Behörden, die Willkür des Geheimdiensts sowie Eigenmächtigkeiten der Provinzregierung und ihrer Geschäftspartner. Der junge Mann fragt sich, warum die Bundeswehr und die deutschen Entwicklungshelfer in Kundus gemeinsame Sache mit den korrupten Provinzoberen machen. Die deutschen Militärs konnten oder wollten in seinen Augen nicht einmal verhindern, dass die Talibanmilizen die komplette Umgebung von Kundus wieder unter ihre Schreckensherrschaft gebracht haben.
Das Vertrauen ist angekratzt
Nicht die Zahl der gebauten Schulen zählt für viele Afghanen bei der Beurteilung des ausländischen Engagements am Hindukusch, sondern die Frage, welche Versprechungen der Westen eingehalten hat. Aber diese Bilanz fällt dürftig aus. Sicherheit? In 34 der 35 Provinzen Afghanistans unterhalten die Taliban laut Angaben der ausländischen Sicherheitstruppe Isaf eine Schattenregierung. Außerdem paktiert der Westen mit unglaubwürdigen Afghanen. Wirtschaftliche Entwicklung? In Dubai füllen sich die Bankkonten von Afghanistans Bonzen zwar mit Millionen, die der Westen nach Afghanistan pumpt. Aber die allgemeine Existenznot vieler Afghanen ist heute nicht geringer als vor acht Jahren. Demokratie?
Der Westen unterstützt mit Hamid Karsai einen Präsidenten, der bei den Präsidentschaftswahlen bewiesen hat, dass er mit den gleichen unlauteren Mitteln hantiert wie seine Vorgänger der vergangenen 30 Jahre.
Nun verkünden Politiker von Berlin bis Washington, die hehren Prinzipien westlicher Demokratie könnten in Afghanistan nicht umgesetzt werden. So redet auch der Quacksalber, der einen Schwerkranken jahrelang mit den falschen Medikamenten behandelte und sich nun rechtfertigt, der Patient sei schuld, weil er sich nicht heilen lasse.
Das Vertrauen der Afghanen in den Westen ist so stark angekratzt, dass weder die massive Aufstockung ausländischer Truppen noch weitere Milliarden an Hilfsgeldern das Ziel erreichen können, das US-Präsident Barack Obama ausgegeben hat: Die Bevölkerung am Hindukusch müsse für das Vorhaben des Westens gewonnen werden. Die Herzen und Köpfe der Afghanen sind nach den vergangenen acht Jahren unwiederbringlich verloren. Jeder ausländische Soldat, der am Hindukusch sein Leben lässt, stirbt, um den Status quo zu retten. Jeder Euro, der dort ausgegeben wird, dient nur dazu, die Dinge halbwegs in der gegenwärtigen Balance zu halten.
Der Westen hat sich mit seinem Versagen in Afghanistan in ein Dilemma manövriert. Denn auch ein Abzug ist keine Alternative. In Afghanistan sind mittlerweile so viele offene Rechnungen zu begleichen, dass ein Blutbad folgen würde – ähnlich dem des Bürgerkriegs in Ruanda Mitte der 90er-Jahre. Damals hat der Westen die Augen vor dem Völkermord verschlossen. In Afghanistan kann sich die Nato ihrer Verantwortung aber nicht entziehen. Die Staaten des Militärbündnisses müssten bei einem Abzug Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen Afghanen aufnehmen, um sie vor der Vergeltung der Talibanmilizen zu retten.
Daran ändert auch der massive Ausbau und Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte nichts. Zum einen gehen Paschtunen aus dem Süden des Landes nicht zur Armee. Zum anderen weiß jeder Afghane, dass fast alle Armee- und Polizeioffiziere ihre Ersparnisse ins Ausland schaffen. Auf sich allein gestellt werden sie als Erste das Land verlassen und ihre Schutzbefohlenen den Talibanmilizen überlassen. Auch sollte man sich keine Illusionen über die Absichten der radikalislamischen Gotteskrieger machen. Sie denken in Generationen.
Die für Ende Januar geplante Afghanistankonferenz kann das Dilemma des Westens nicht lösen. Das Rezept “Geld”, auf das die westliche Diplomatie all ihre Hoffnung setzt, funktioniert nicht. In der komplizierten Gemengelage von Stämmen und Loyalitäten werden die Mittel einem großen Teil der Afghanen auch künftig vorenthalten bleiben.
Es gibt, wenn überhaupt, nur einen Weg aus dem Dilemma: Jeder einzelne Vertrag, jeder einzelne Partner, jede Zusammenarbeit und jedes Projekt müsste überprüft werden, um die politischen Folgen der Partnerschaften zu verstehen. Es dürfen keine faulen Kompromisse mehr geschlossen werden zwischen politischer Opportunität und Glaubwürdigkeit. Denn nur wenn das Ausland sich glaubhaft an die Prinzipien hält, die es für seine Gesellschaften beansprucht, kann es in Afghanistan wenigstens etwas Respekt zurückholen.
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