Der zögerliche Umgang der Amerikaner und Europäer mit der ägyptischen Revolution widerspricht dem unmittelbaren Moralempfinden. Aber er hat Gründe.
Schwer zu sagen, was man aus den etwas mehr als zwei Jahrhunderten europäischer Revolutionsgeschichte für den Fortgang der ägyptischen Ereignisse lernen könnte. Denn Alexis de Tocqueville wird wohl recht haben mit dem Wort, das Rudolf Burger in dieser „Presse“-Ausgabe zitiert: „Ich habe immer beobachtet, dass man in der Politik untergeht, wenn man ein zu gutes Gedächtnis hat.“
Es hilft einem also die Erinnerung an vergangene Revolutionen nicht, um gegenwärtige zu stoppen, zum Erfolg zu führen oder für sich zu instrumentalisieren. Das sind ja im Wesentlichen die Optionen der großen Mächte angesichts revolutionärer Ereignisse an strategisch neuralgischen Orten. Die Moral rät zur Unterstützung, die Taktik zum Stopp, die Strategie zur Vereinnahmung. Was könnte man aus der – ebenfalls wie aus dem Nichts kommenden – iranischen Revolution 1979 lernen? Nichts.
Einige Muster der Großmachtpolitik angesichts revolutionärer Volkserhebungen scheinen allerdings relativ konstant zu bleiben. Das entscheidende Ideologem amerikanischer Außenpolitik im Umgang mit karibischen, mittel- und südamerikanischen Volksaufständen gegen die herrschenden Diktatoren hieß seit jeher: „Er ist ein Schweinehund, aber er ist unser Schweinehund.“ In den 1950er-Jahren galt es für den kubanischen Machthaber Fulgencio Batista.
Man ließ ihn und später die rechten mittelamerikanischen Diktatoren gewähren, weil die 1950er- und dann wieder die 1980er-Jahre besonders stark von der Angst geprägt waren, die Sowjets könnten Lateinamerika und die Karibik ihrem Imperium einverleiben.
Nach dem Untergang der Sowjetunion haben die islamischen Fundamentalisten die Rolle der Großbedrohung übernommen. Und man agierte wieder nach dem Prinzip „Er ist ein Schweinehund, aber er ist unser Schweinehund“. Das galt lange für den irakischen Diktator Saddam Hussein, es gilt für das saudische Königshaus, die Haschemiten und den ägyptischen Machthaber Hosni Mubarak.
Wie so oft barg auch dieser strategische Pragmatismus ein gutes Stück historischer Ironie: Nach dem Ende der sozialistischen Phobie waren es die Vertreter und Nachfahren des arabischen Sozialismus, die der amerikanischen Außenpolitik als Garanten gegen eine islamistische Machtübernahme galten.
Solange sich die arabischen Kleptokraten damit begnügten, sich und ihre Familien zu bereichern, und ihre systematischen Menschenrechtsverletzungen unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwellen blieben, funktionierte das ganz gut. Saddam Hussein hat es irgendwann übertrieben.
Die amerikanische Reaktion auf Saddams Versuch, sich den Nachbarn Kuwait einzuverleiben, war eher von energiestrategischen Überlegungen getrieben. Den zweiten Golfkrieg führte Bush junior aber aus Überzeugung. Er und seine von Paul Wolfowitz angeführten Berater, die sich zur „neokonservativen“ Schule des Chicagoer Philosophen Leo Strauss zählten, glaubten auf naive Weise an die Möglichkeit einer Demokratisierung des Nahen Ostens durch den Sturz von Diktatoren.
Was jetzt in Ägypten passiert, ist für die europäische und für die amerikanische Außenpolitik etwas ziemlich Irritierendes. Man merkt das auch an den teils peinlichen Diskrepanzen zwischen EU-Außenministerin Catherine Ashton und den Regierungschefs der großen europäischen Mächte (Silvio Berlusconis Lobeshymne auf Mubarak stellt einen Sonderfall von Hirn in der Hose dar und zählt nicht): Das Demokratiepathos der Kommission hat unmittelbar mit ihrer De-facto-Entmachtung durch die Staats- und Regierungschefs zu tun. Moral war immer die Zuflucht der Machtlosen.
Wer nichts zu verlieren hat, kann leicht moralisch sein. Für die großen Mächte stehen ökonomische Beziehungen, strategische Interessen und militärische Konstellationen auf dem Spiel. Man hat ihnen immer den Vorwurf gemacht, sie stellten solche Interessen über die Moral.
Seien wir froh, dass sie es tun. Denn im Namen einer höheren Moral agieren die Selbstmordattentäter in Tel Aviv, Kabul und Bagdad.
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