The Curse of the Long Black Misery in Baltimore

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Der Fluch des langen schwarzen Elends in Baltimore

Die Unruhen in Baltimore haben weniger mit Rassismus zu tun. Sie sind vor allem Ausdruck der desolaten Zustände in vielen Gettos in Amerika. Drogen und Gewalt befeuern den sozialen Verfall.

Als ein schwarzer Absolvent der prestigeträchtigen Jurafakultät von Yale im Jahr 1910 ein Haus in einem weißen Viertel Baltimores kaufen wollte, sorgte das für Aufruhr in der Stadt. Die Kommune reagierte mit einem Gesetz, das es Schwarzen nur erlaubte, in bestimmten Vierteln zu leben. “Schwarze sollten in isolierten Slums unter Quarantäne gestellt werden, um damit die Vorfälle bürgerlicher Belästigung zu vermindern, um die Verbreitung ansteckender Krankheiten in die umliegenden Weißenviertel zu verhindern und um den Wert des Eigentums der weißen Mehrheit zu schützen”, erklärte der damalige Bürgermeister.

Als das amerikanische Verfassungsgericht diese Politik 1917 aufhob, behalf man sich mit anderen Mitteln. Die Stadt unterstütze die Bildung von weißen Hausbesitzerverbänden, die sich untereinander verpflichteten, nicht an Schwarze zu verkaufen. Die sollten gefälligst in ihren Gettos bleiben.

Wer die explosive Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Armut in den innerstädtischen Slums Amerikas verstehen will kommt nicht umhin, sich mit der jahrzehntelangen Politik der Diskriminierung auseinanderzusetzen, die Schwarze in bestimmte Viertel zwängte und ihre Aufstiegschancen systematisch untergrub. Eine Politik, die keineswegs auf Baltimore beschränkt war und auch nicht etwa nur auf den Süden und die ehemaligen Sklavenhalterstaaten, sondern genauso auch für den Norden Amerikas und seine einst boomenden Industriestädte galt.

In Baltimore und anderswo setzte sich diese Politik etwa durch das “Redlining” der nationalen Wohnungsbehörde in den 30er- und 40er-Jahren fort. Viertel wie Sandtown-Winchester, in dem der getötete Freddie Gray aufgewachsen ist – das Zentrum der Unruhen am Anfang der vergangenen Woche –, wurden zu Zonen erklärt, in denen der Staat keine Kredite zum Erwerb von Hauseigentum vergab.

Erwerb von Hauseigentum wurde Schwarzen verwehrt

Vielen Schwarzen wurde damit der Weg verbaut, den viele Weiße zwischen 1930 und 1960 erfolgreich einschlugen: über Hauseigentum zu Wohlstand zu kommen und aufzusteigen. Stattdessen mussten sie überhöhte Mieten zahlen oder Haifisch-Kredite aufnehmen, bei denen sie alle eingezahlten Werte samt Haus verloren, wenn nur eine Zahlung ausblieb. Der Traum von der Mittelschicht war für Schwarze weit schwerer zu erreichen als für die weiße Mehrheit.

Amerika und Baltimore sind heute in vielerlei Hinsicht anders. Die Stadt wird seit Jahrzehnten von schwarzen Bürgermeistern und mehrheitlich schwarzen Stadträten regiert, und im Land herrscht ein schwarzer Präsident. Die wichtigste Trennlinie ist heute nicht mehr die Hautfarbe, sondern die Klassenzugehörigkeit. Nur dass eben die Unterschicht mit überdurchschnittlich vielen Schwarzen besetzt ist, die sich wegen fehlender wirtschaftlicher Puffer und schlechter Bildung den ökonomischen Schocks, etwa der seit den 70ern einsetzenden Deindustrialisierung von Städten wie Baltimore, weit weniger entziehen konnten als die weiße Mittelschicht.

Die Geschichte der sozioökonomischen Diskriminierung erklärt einige der Missstände in Amerikas innerstädtischen schwarzen Slums. Aber sie erklärt eben auch nicht alles. Der erste schwarze Bürgermeister Baltimores hat in den 90er-Jahren 130 Millionen Dollar in den Aufbau von Sandtown-Winchester gesteckt. Dennoch hat das wenig geändert an den desolaten Verhältnissen. Denn tatsächlich werden die Armenviertel nicht mehr allein von äußeren Faktoren unter Druck gesetzt, auch im Innern hat eine Erosion eingesetzt, ein moralischer und sozialer Zerfall.

Die Drogenwelle und die damit einhergehende Gewalt und Kriminalität hat seit den 80er-Jahren viele Menschen ruiniert oder getötet und den sozialen Zusammenhalt in den Armenvierteln zerstört. Und während sich die Familienverhältnisse in der amerikanischen Mittelschicht nach dem Scheidungsboom der 70er-Jahre wieder deutlich stabilisiert haben, zerbröseln sie in der Unterschicht immer weiter.

Viele Kinder wachsen ohne Vater auf

In ganz Baltimore wachsen inzwischen 60 Prozent der Kinder mit nur einem Elternteil auf, in den heruntergekommenen Vierteln in West Baltimore liegt diese Quote noch weit höher. Die meisten Kinder werden ohne Väter groß, haben in ihrem Leben noch nie intakte Familienverhältnisse erfahren. Bildung gilt besonders unter den männlichen Jugendlichen zudem als uncool.

Gewalt, Drogenkonsum oder Alkoholismus von Familienmitgliedern, das Leben auf von Banden beherrschten Straßen und der fehlende emotionale Rückhalt in der Familie setzen die Kinder in den schlimmsten Armenvierteln Amerikas einem emotionalen Druck aus, der dem posttraumatischen Stresssyndrom von Kriegsveteranen ähnelt, wie Forscher herausgefunden haben. Alles zusammen schafft eine Unzufriedenheit, die sich dann sporadisch in Gewaltausbrüchen entlädt. Der Tod von Freddie Gray in Polizeigewahrsam hat dafür nur einen Anlass geboten, die tieferen Ursachen sind jedoch andere.

In den Armenvierteln Baltimores herrschte Jubel, nachdem die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Tötung eingeleitet hatte gegen die sechs Polizisten, die am Tod von Freddie Gray beteiligt waren. Zu lange ist unangemessene Polizeigewalt, die übrigens in Baltimore gleichermaßen von schwarzen wie weißen Beamten verübt wird, ungesühnt geblieben.

Das eingeleitete Verfahren ist ein Fortschritt und es wird abschreckende Wirkung entfalten auf eine Polizei, die im Antidrogenkrieg der vergangenen Jahre und Jahrzehnte jegliche Hemmungen verloren zu haben scheint. Aber die Probleme in den Armenvierteln der Stadt sind damit keineswegs gelöst.

Toxische Diskriminierungsgeschichte

In Wahrheit weiß niemand, wie man der toxischen Mischung aus alter Diskriminierungsgeschichte und innerem Zerfall, typisch für Problemviertel in vielen amerikanischen Städten, wirksam begegnen kann. Immer, wenn die Probleme wie nun in Baltimore in den Blick geraten, wird gefordert, man müsse Jobs schaffen, um diesen Leuten eine Perspektive zu geben.

Doch die alten Industriejobs, wo man mit geringen Fähigkeiten und wenig Ausbildung auskömmliche Gehälter verdienen konnte, sind nach Asien abgewandert. Und selbst für schlecht bezahlte Dienstleistungstätigkeiten greifen Arbeitgeber heute oft auf eingewanderte Hispanics zurück, weil sie verlässlicher sind als die Kids aus den Schwarzengettos, denen es oft an grundlegenden Qualifikationen mangelt.

Da hilft es auch nicht, wenn bekannte Schwarzenführer eine Kultur der Selbstviktimisierung befördern oder stets nach dem Staat gerufen wird, der, wie sich in Baltimore gezeigt hat, auch mit viel Geld oft wenig erreicht. Ja, die Gesellschaft kann mehr tun, um den Kids einen Weg aus den Gettos zu eröffnen. Aber ohne eigene Anstrengung, ohne den Willen zum Aufstieg über Bildung und ohne stabilere Familienverhältnisse wird das schwerlich zum Erfolg führen.

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