The Lies of Others

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Die Lügen der anderen

Eine objektive Betrachtung der beiden Kandidaten ist kaum mehr möglich. Die amerikanischen Wähler können nicht einmal mehr beurteilen, wer ein Lügner ist. Ein Kommentar.

Linke und rechte Amerikaner leben in getrennten Welten. Sie fischen sich ihre Informationen aus separaten Nachrichtenströmen. Politisierte Sender und Internetdienste legen ihren Konsumenten eine Wahrheit zurecht, die sich mit der des anderen Lagers kaum überlappt.

Schon das Vokabular ist verschieden. Wo die einen „Einwanderern ohne Papiere“ einen „Pfad zur Staatsbürgerschaft“ ebnen wollen, wettern andere gegen eine „Amnestie“ für „illegale Ausländer“. Des einen „Erbschaftsteuer“ ist des anderen „Sterbeabgabe“. Linke versprechen „Waffensicherheit“, Rechte kämpfen gegen „Waffenkontrolle“. Im Duell zwischen Hillary Clinton und Donald Trump gewinnt die Polarisierung eine neue Dimension. Die Bürger machen sich keinen gemeinsamen Begriff mehr von Wahrheit und Lüge.

Lug, Trug und Heimlichtuerei sind Megathemen dieser Kampagne. Clinton gewährte nicht einmal der Regierung Zugang zu ihren Minister-Mails. Die Reden vor Bankern, für die sich die Demokratin fürstlich entlohnen ließ, bleiben unter Verschluss. Der Republikaner Trump weigert sich, seine Steuererklärungen zu veröffentlichen. Und niemand kann sich an einen Präsidentschaftskandidaten erinnern, der sich von Fakten so wenig hätte bekümmern lassen wie Trump. Doch nicht er, sondern Clinton wird im ganzen Land auf Schildern als „Lügnerin“ verunglimpft. Wenn Trumps Anhänger ihr also Verlogenheit, ihm aber Wahrhaftigkeit unterstellen, dann geht es ihnen nicht zuerst um einen korrekten Umgang mit Tatsachen.

Trump vertraut seinem Bauch

Millionen Amerikaner nehmen Trump vielmehr als unverstellt wahr. Seine schlichte, grammatisch oft unzureichende derbe Ausdrucksweise sehen sie als Beleg, dass Trump seine „wahren“ Überzeugungen ungefiltert mitteile. Mit haltlosen Insinuationen und leicht widerlegbaren Behauptungen steigert der Kandidat seine Vertrauenswürdigkeit in den Augen vieler Gefolgsleute gar. Denn wer liegt schon in allen Details richtig, wenn er sein Herz auf der Zunge trägt?

Umfragen

Auch Hillary Clinton hat mutwillig Tatsachen zurechtgebogen. Ihre Behauptung, der FBI-Direktor habe ihr die „wahrheitsgemäße“ Beantwortung aller Fragen zur E-Mail-Affäre bescheinigt, trug der Demokratin in der „Washington Post“ die Höchststrafe von vier Pinocchios ein. Oft passiert ihr derlei nicht. Anders als Trump gibt sie fast keine Pressekonferenzen. In Interviews greift sie auf Sprachschablonen zurück. Unerwarteten Fragen weicht sie lieber aus, als dass sie etwas Unbedachtes sagt. Ihre Reden sind durchkomponiert. Trump dagegen vertraut auf seinen Bauch. Er zelebriert die Abkehr von einer Erstmal-nachdenken-Politik. Das kommt in einem Volk an, das nach einer Studie mehrheitlich meint, „gewöhnliche Leute“ könnten Amerikas Probleme besser lösen als die Politiker.

Clinton gleicht eher Barack Obama, der oft quälend lange nach unverfänglichen Formulierungen sucht. Da wittern viele Bürger Verdunkelungsgefahr. Rücksicht auf Empfindlichkeiten bestimmter Gruppen oder Nationen sehen sie nicht als Ausweis umsichtiger Führungsstärke, sondern als Mangel an Aufrichtigkeit. Trump sprach Abermillionen Amerikanern aus der Seele, als er sagte: „Wir haben keine Zeit mehr für politische Korrektheit.“ Umso mehr Zeit hat er für Unkorrektheiten. Allein die Liste der Dinge, die er „nie gesagt“ haben will, obwohl sich jeder bei Youtube vom Gegenteil überzeugen kann, füllt Seiten.

Keine gemeinsame Sprache mehr

Clintons Anhänger jubelten im vorigen Herbst, nachdem die frühere Außenministerin eine elfstündige Kongress-Befragung über den tödlichen Angriff auf das Konsulat in Benghazi souverän durchgestanden hatte. Doch ihre Gegner sahen nur bestätigt, dass Clinton eine Meisterin der Täuschung sei. Als frühere First Lady, Senatorin und Ministerin wird sie seit Jahrzehnten beobachtet. Sie ist ein lebender Beweis dafür, dass immer etwas hängen bleibt, wenn man jemanden nur hartnäckig mit Vorwürfen überzieht. Diese reichten von Korruption beim Immobilienkauf bis zur Ermordung eines Regierungsjuristen.

Dass ihr Mann Bill beinah wegen Meineids abgesetzt worden wäre, macht nichts einfacher. Heute rächt es sich, dass Hillary sich abschottete und ein tiefes Misstrauen gegen die Presse hegte. Trump dagegen, der Journalisten pauschal als „unehrlich“ und „ekelhaft“, kurz: als „niedere Lebensform“ bezeichnet, spannt die Medien virtuos für seine Zwecke ein. Die „New York Times“ gab kürzlich auf der ersten Seite zu bedenken, dass ausgewogene Berichterstattung kaum mehr möglich sei. Wie solle das gehen, wenn eine konventionelle Politikerin gegen einen Mann antritt, der täglich Kontroversen anzettelt – und den wichtige Leute beider Parteien als Gefahr für die Welt betrachten?

Die Amerikaner werden nicht so bald zu einer gemeinsamen Sprache zurückfinden, geschweige denn zu einer weitgehend deckungsgleichen Deutung politischer Entwicklungen. Es wäre schon viel, wenn sich die Lager wenigstens auf eine Grundregel zurückbesinnen könnten: Wer seine Argumente nicht auf Fakten gründet, sondern mit Legenden Ängste schürt und gefühlte Wahrheiten als Tatsachen ausgibt, dem fehlt das Zeug für hohe Ämter im Dienste der Allgemeinheit. Kurz: Ein Lügner ist, wer absichtlich die Unwahrheit sagt.

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