The “Ick-Factor”

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Der “Ick-Factor”

Warum Sexskandale in den USA wie der Fall des New Yorker Gouverneurs Spitzer anders sind als ähnliche Vorfälle in Europa.

“In Europa”, sagt Alan Dershowitz, der amerikanische Staranwalt, der durch die Verteidigung von O. J. Simpson bekannt geworden ist, “wäre diese Geschichte mit Spitzers Prostituierten-Besuch nicht einmal auf einer der hinteren Seiten der Zeitung gelandet.” Das stimmt, wie wir alle wissen, natürlich nicht: Schon am allerersten Tag schaffte es Spitzer auf die Titelseiten in London, Frankfurt und Madrid. Aber ist an der alten Geschichte, dass Europa nachsichtiger und reifer mit Sexskandalen und mit Sexualität überhaupt umgeht, etwas dran?

Nun geht der Fall Spitzer weit über einen Sexskandal hinaus: Spitzer war der Gouverneur eines Staates, wo er über Milliardeninvestitionen entscheidet. Er war angetreten als Saubermann, flankiert von einem selbst gegründeten Ethikkomitee und schon zuvor über die Landesgrenzen hinaus bekannt als harter Staatsanwalt, der gegen Korruption kämpfte. Ausgerechnet so jemand bedient sich nicht nur einer Prostituierten (was in seinem eigenen Staat illegal ist). Er soll dafür in den vergangenen sechs Jahren bis zu 80.000 Dollar aus ungeklärten Quellen über Schwarzkonten an eine Organisation gezahlt haben, die vom FBI hochgenommen wurde.

Doch wer erinnert sich nicht an Monica Lewinsky? Damals war es Bill Clinton, der Präsident, der, nach vielen anderen Affären, mit einer Praktikantin beim Oralsex erwischt wurde. Lewinsky hatte Clinton im Weißen Haus verführt, indem sie ihm ihre Strapse zeigte. Anschließend war sie zu ihrer Freundin Linda Tripp gegangen, hatte sich wiederum auf Anraten ihrer Freundin Lucienne Goldberg ein Aufnahmegerät unter die Bluse gebunden und damit den ganzen Skandal in die Öffentlichkeit gebracht. Die übererregte Debatte in Amerika über diese Affäre galt damals vielen Europäern als Beweis, dass Amerikaner verkrampft, puritanisch und unreif seien.

Hingegen der alte Kontinent: Da durfte der französische Präsident eine Zweitfrau haben, der deutsche Bundeskanzler vier Mal verheiratet sein, vom britischen Königshaus erst gar nicht zu reden. Die Briten stören sich erst an der Affäre eines Politikers, wenn das betreffende Callgirl gleichzeitig für den KGB spioniert. Deutschland ist eher noch toleranter. Das Coming Out von Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit und seinem Hamburger Amtskollegen Ole von Beust, Horst Seehofers Geliebte und ihr Kind, Christians Wulffs Scheidung, Joschka Fischers fünfte Frau, das alles wird mit Achselzucken zur Kenntnis genommen. Bloß Gabriele Pauli, die stolperte über ein Paar schwarze Lack-Handschuhe.

Amerika hingegen ist in den vergangenen Jahren geradezu rotiert über Sexskandale, die die Zeitungsspalten füllten und den Comedy-Shows Rekordeinschaltquoten bescherten: Wir hatten den republikanischen Senator Larry Craig, der auf einer Herrentoilette beim Füßeln erwischt wurde; Senator David Vitter, einer der Kunden der “DC Madam”, die in Washington einen Prostituiertenring betrieb; den Callboy Jeff Guckert/Jim Gannon, der einen Presseausweis fürs Weiße Haus bekam; den Kongressmann Mark Foley, der schlüpfrige E-Mails an männliche Praktikanten schickte; den Evangelikalenführer Ted Haggard, der sich von einer männlichen Prostituierten massieren ließ; und New Yorks früheren Bürgermeister und gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Rudy Giuliani, der den Personenschutz für seine Geliebte auf den Steuerzahler abwälzte.

Unter den Demokraten sieht es übrigens keineswegs besser aus: Da haben wir den Kongressmann Barney Frank, dessen Freund von seiner Wohnung aus ein Bordell betrieb; den Kongressmann Gary Condit, der eine Affäre mit der Praktikanten Chandra Levy hatte und deren Leiche später in einem Park gefunden wurde; den Gouverneur von New Jersey Jim McGreevey, der eine Affäre mit seinem Sicherheitschef zugab (dieser sagt, dies sei keine Affäre gewesen, sondern sexuelle Belästigung).

TEIL 2

Nun also Spitzer. Die Debatte über ihn ist in Amerika, verglichen mit der über Clinton und Lewinsky, erstaunlich unhysterisch und vernünftig. Das parteipolitisch motivierte Hecheln ist weg, wohl auch deshalb, weil der Spitzenkandidat der Republikaner, John McCain, womöglich selber eine Affäre hatte. Bewiesen ist das nicht, und den meisten Amerikanern ist es sowieso egal. Und die Late-Night-Komiker spinnen es eher als Gerücht aus dem McCain-Camp, das belegen soll, dass der 71-jährige Senator noch viril und jung genug ist, um Präsident zu werden.

Stattdessen wird in Amerika nun über Prostitution und Moral geredet: Wäre es nicht besser, Prostitution zu legalisieren? Wenn es darum geht, Menschenhandel zu unterbinden, warum werden dann Prostituierte kriminalisiert, auch Minderjährige? Sind diese Gesetze noch zeitgemäß? Wie viel Recht auf Privatleben gibt es? Wie würde Europa damit umgehen?

Aber hier ist der Unterschied zwischen amerikanischen und deutschen Sexskandalen. Die amerikanischen haben – fast – alle das, was Carrie Bradshaw in der Fernsehserie Sex and the City den “Ick-Factor” nennt. Dieses Unangenehm-Schlüpfrige, das Zuschauer veranlasst, sich die Hände waschen zu wollen. Dass sich Schröder oder Wulff eine neue junge Frau suchen und Seehofer mit einer überraschenden Vaterschaft konfrontiert wird, ist nicht die Moral unserer Großväter, aber doch eine Erfahrung des normalen Lebens. Nutten in Hotels oder schwule Massagesalons gegen Cash, damit will niemand etwas zu tun haben.

Nun gibt es eine Korrelation zwischen dem Maß an Puritanismus und dem “Ick-Factor”. Je puritanischer eine Gesellschaft ist, je weniger sie schwule Lebensgemeinschaften, Scheidungen und das Zusammenleben unverheirateter Paare toleriert, eben all das, was von der althergebrachten Moral abweicht, um so mehr brechen sich sexuelle Bedürfnisse eruptiv und seitwärts eine Bahn, im Geheimen. Wird eine Gesellschaft toleranter, dann verschwindet auch diese Art von Skandalen aus den Schlagzeilen. Wenn es in Amerika erst normal geworden ist, dass ein Präsident in vierter Ehe verheiratet ist und ein Gouverneur mit seinem Freund zusammenlebt, wird das Land auch den “Ick-Factor” los. Dann wird selbst Alan Derwhowitz verstehen, warum es in Europa toleriert wird, wenn der Landwirtschaftsminister eine Affäre hat, nicht aber, wenn es um Gesetzesbruch, Geldschieberei und Ausbeutung von Frauen geht.

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