The Handgun Lies Next to the Bible

<--

Die Pistole liegt neben der Bibel

Er ist der größte Verlierer in der amerikanischen Gesellschaft – aber er entscheidet über den nächsten Präsidenten: der weiße Mann

Von Martin Klingst

Er wohnt im Mittleren Westen auf einer entlegenen Farm oder in langweiligen, schnurgeraden Kleinstädten, am Rande des Appalachen-Gebirges oder in den trostlosen Vororten dahinsiechender Industriemetropolen. Er arbeitet als Bauer, Bergmann, Stahlarbeiter, Tankwart oder Kleinhändler. Joe, wie er gern redensartlich genannt wird, genießt die ganze Aufmerksamkeit der Demoskopen und Politstrategen – und der Kandidaten John McCain, Hillary Clinton und Barack Obama. Der männliche weiße Arbeiter, der white blue-collar worker, ist die Schlüsselfigur im amerikanischen Wahlkampf, der große Umworbene, dessen Stimme über den Präsidentschaftskandidaten der Demokraten entscheiden soll und im Herbst über den nächsten US-Präsidenten. Warum?

Joe ist wütend, und diese Wut könnte bei der Wahl den Ausschlag geben. Er bangt um seinen Arbeitsplatz und zürnt den vielen neuen Einwanderern. Er stöhnt unter der Hypothekenlast für sein kleines Haus und weiß nicht, wie er die nächste Tankfüllung begleichen soll. Der Frust treibt ihn in die Arme der Demokraten mit ihrer Politik des fürsorgenden Staates. Für die Demokraten ist das eine riesige Chance, die sie auf keinen Fall verspielen wollen. Denn in den vergangenen Jahrzehnten haben sie ihr Wählerpotenzial bei den kleinen Leuten nicht ausschöpfen können.

Geschossen wird auf Krähen und Blechbüchsen

Ursprünglich waren die Joes aus Ohio und Kentucky, aus Pennsylvania und Kansas mehrheitlich treue Wähler der gewerkschaftsnahen Demokraten, verdankten sie ihnen und ihren Präsidenten doch gerechtere Löhne, ein soziales Netz und damit ein besseres Leben. Aber in den 1960er Jahren wandten sie sich enttäuscht ab. Der Linksliberalismus der Demokraten ging ihnen zu weit, das Engagement für die Gleichberechtigung von Frauen und Schwarzen, für Kriegsdienstverweigerer und das Recht auf Abtreibung, für strengere Waffengesetze und schwule Lebensgemeinschaften. Die affirmative action, die Förderung und Bevorzugung von Minderheiten, vor allem von Afroamerikanern, trieb viele, ebenso um ihren sozialen Aufstieg bemühte Weiße auf die Barrikaden. Die Demokraten konnten ihre Wählerschaft nicht mehr zusammenhalten.

Die kulturelle Liberalität war den weißen Joes ein Gräuel, weil sie ihren seit den Pioniertagen hochgehaltenen Werten widersprach. Es sind Werte, die für die einen Glanz und Größe Amerikas repräsentieren, für die anderen Kleingeist und Enge. Der Schriftsteller Truman Capote beschrieb Joe als einen patriotischen, gottesfürchtigen, hart arbeitenden, ehrlichen Familienmenschen, der sonntags in die Kirche geht, das Dankgebet vor dem Essen, das Nachtgebet vor dem Schlafengehen spricht, und wenn das Wetter schön ist, gern hinausfährt und mit dem Gewehr auf Krähen und Blechbüchsen schießt. Er weiß wenig von der Welt, aber heißt andere willkommen – sofern sie so aussehen und so denken wie er selbst. Schwarze sind ihm fremd und werden geduldet, solange sie das weiße Amerika nicht stören.

Viel hat sich seither geändert, vor allem unter den Jüngeren, sonst hätte Barack Obama nicht solchen Erfolg. Doch den typischen Joes begegnet man weiterhin, nicht nur in Kinofilmen oder den Romanen und Kurzgeschichten von John Updike, Truman Capote, Russell Banks oder Breece Pancake. Man trifft sie überall, zum Beispiel am Rande von Cleveland, im Bundesstaat Ohio, in der Gestalt des katholischen Stahlarbeiters Ed McMillan oder in Geenville, South Carolina, wo Joe den Namen Jeff Kruger trägt.

Ed hat gerade noch einmal Glück gehabt hat, weil die Inder, die das Werk kauften, ihn übernommen haben, allerdings zu einem geringeren Lohn. Jetzt legt er Sonderschichten ein und verdient ein Zubrot in seiner Kirche, damit er seine kranke Frau und seine zwei kleinen Kinder über die Runden bringen kann und das verschuldete Haus nicht unter den Hammer kommt. Sonntags, pünktlich um neun, gehen die McMillans zur Messe, mittwochs zur Beichte.

Jeff Kruger aus South Carolina repariert rund um die Uhr Landmaschinen, seine Frau Samantha hat drei Jobs, damit ihre fünf Kinder eine vernünftige Ausbildung erhalten. Wenn es die Zeit erlaubt, besuchen die strenggläubigen Krugers ihre protestantische Kirche dreimal die Woche. Jeffs Hobby ist die Jagd, er besitzt einen ganzen Schrank voller Gewehre und Pistolen. Früher, als alles besser war, legte er oft samstags seine Flinte auf die Ladefläche seines betagten Pick-ups und fuhr in die nahe gelegenen Berge von North Carolina. Ed McMillan besucht in seiner spärlichen Freizeit lieber einen irischen Pub. Auch er besitzt eine Pistole, »zur Selbstverteidigung«. Denn in letzter Zeit wird in der Nachbarschaft viel eingebrochen. Die Pistole liegt auf seinem Nachttisch, gleich neben der Familienbibel.

Jeff und Ed sind Gewerkschafter und sehen sich wie viele weiße Arbeiter im Grunde ihres Herzens als Demokraten. Aber bei den Präsidentenwahlen haben sie fast immer für die Republikaner gestimmt. Nur Ed aus Ohio hat einmal eine Ausnahme gemacht, als Bill Clinton antrat. »Der kam aus Arkansas«, sagt er, »sein Vater war ein Trinker, er musste sich hart hocharbeiten. Der weiß, wie wir kleinen Leute denken.« Diese Herkunft Bills kommt jetzt auch seiner Ehefrau Hillary zugute. Ed glaubt ihr, wenn sie mit feuchten Augen davon erzählt, wie sie als Kind brav die Kirchenbank gedrückt und in den Hügeln von Pennsylvania von ihrem Großvater das Schießen gelernt habe.

Das Besondere an der Wahl 2008 ist, dass die amerikanischen Konservativen nicht mehr darauf zählen können, dass Kultur- und Moralfragen ihnen die Wähler mit geringem Einkommen und prekärem sozialen Status zutreiben. Die Wut auf die kaltherzigen Republikaner als Partei der Reichen könnte diesmal den Zorn auf die sitten- und gottlosen Demokraten verdrängen. Denn die Joes fühlen sich von den Konservativen im Stich gelassen – Präsident George W. Bush hat ihnen eine bedrohliche Wirtschaftskrise beschert, und viele der im Irak getöteten Soldaten sind Töchter und Söhne kleiner Leute aus Iowa, Kentucky und Kansas.

Regierung und Bosse taugen nichts, aber Amerika bleibt großartig

Doch auf einmal droht der Kandidat Barack Obama die wiederbelebte Liebe zu den Demokraten zu gefährden. Erst weigerte er sich, eine Anstecknadel mit der US-Flagge ans Revers zu stecken, was Jeff Kruger aus South Carolina, der im ersten Golfkrieg seinen Kopf für sein Land hingehalten hat, sehr verärgert. Dann stellte sich heraus, dass Obamas ehemaliger Pastor jahrelang schlecht über Amerika geredet hat. Und schließlich äußerte sich Obama leicht abfällig über die kleinen Leute, die sich aus Frust über die miserabe Wirtschaftslage an ihre Religion und Gewehre »klammern« und Vorurteile gegen Einwanderer hegten. Nichts geht Ed McMillan aus Ohio mehr gegen den Strich, als wenn »so ein elitärer Harvard-Absolvent uns hier runtermacht«.

Ist Obama in Wahrheit doch nicht der große Versöhner, sondern einer, der die Kulturkämpfe der vergangenen Jahrzehnte fortsetzen will? Kein richtiger Patriot? Joe und die Seinen mögen zwar fürchterlich auf die Regierung und die Konzernbosse schimpfen, aber niemals auf »ihr Amerika«, das sie und ihre Vorfahren mitgeschaffen haben und auf das sie ungebrochen stolz sind. Für sie tragen allein die Politiker in der fernen Hauptstadt Schuld an der großen Krise, Amerika hingegen ist vollkommen. Sie fordern: »Repariert Washington!« Obama dagegen predigt: »Lasst uns gemeinsam Amerika reparieren!« Das Land selbst sei nicht untadelig und müsse auf den Pfad seiner großartigen Tugenden zurückgeführt werden. Bei dieser Botschaft fragen viele weiße Männer, ob der schwarze Senator aus Illinois ihre uneingeschränkte Liebe zu Amerika wirklich teilt.

Amerikas weiße Arbeiterschaft schrumpft, sie hat sich seit 1940 fast halbiert. Das hängt mit den Veränderungen der Arbeitswelt zusammen, mit der wachsenden Bildung und Millionen von Menschen, die aus Mexiko, aus Mittel- und Südamerika eingewandert sind und heute die Arbeit machen, die Weiße nicht mehr erledigen wollen. Der Mittlere Westen hat sich rasant gewandelt, vor allem im Süden und am Rande der Rocky Mountains.

Trotzdem können Joe und seine Schicksalsgenossen ein Kopf-an-Kopf-Rennen bei den Wahlen entscheiden. Als Wechselwähler genießen sie die augenblickliche Aufmerksamkeit und die Respektsbekundungen für ihre Ideale. Die Wertdedebatten, vom Recht auf Abtreibung über den Waffenbesitz bis zur Todesstrafe, sind für alle drei Präsidentschaftskandidaten eine heikle Gratwanderung. Barack Obama aber steckt in einer besonderen Klemme, trotz einiger Siege im Mittleren Westen. Umfragen belegen, dass viele weiße kleine Leute ein Problem mit einem schwarzen Präsidenten hätten – und noch mehr bezweifeln, ob ein Afroamerikaner im November gegen einen Republikaner gewinnen kann. Die Joes, die Ed McMillan und Jeff Kruger heißen, drücken ihr Unbehagen so aus: Der schwarze Senator aus Illinois sei ihnen doch irgendwie sehr, sehr fremd.

About this publication