People and Oil

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Der Mensch und das Öl

Der hohe Ölpreis macht vor allem eines klar: Künftig wird es nicht nur darum gehen, alternative Energiequellen zu entwickeln und neue Antriebsformen für Fahr- und Flugzeuge zu finden. Es geht ums große Ganze, um ein verändertes Verständnis von Mobilität. Ein Kommentar von Alexandra Borchardt

Die Wahrheit vorweg: Der hohe Ölpreis könnte ein Segen sein. Nein, nicht für diejenigen, die heute an den Zapfsäulen stehen und ausrechnen, was ihnen noch zum Leben bleibt, wenn sie das Auto betankt und die Wohnung geheizt haben. Auch nicht für jene Unternehmer, die angesichts hoher Rohstoffrechnungen kalkulieren, wie viel sie noch aufschlagen dürfen auf die Preise, bis der Kunde ihnen nichts mehr abkauft. Das teure Öl könnte ein Segen sein, weil es die Menschen zu etwas zwingt, was sie eigentlich beherrschen: zu Innovationen.

RohstoffeÖlpreis knackt die 130-Dollar-Marke Reichlich vorhandenes Öl gehörte mehr als ein Jahrhundert lang zu den größten Treibern von Erfindungen überhaupt. Die Verbrennung von Öl hat die Industrialisierung, die schnelle Mobilität und die Bewirtschaftung von großen Ackerflächen ermöglicht. Produkte wie Plastik gäbe es nicht, hätten Wissenschaftler und Ingenieure keine Wege gefunden, den Rohstoff zu fördern und zu verarbeiten. Doch der Überfluss an Öl hat die Entwickler neuer Antriebsformen träge gemacht. Wie der Seevogel in der Ölpest, dem der zähe Stoff die Flügel verklebt hat, schwingen auch sie sich nicht mehr zu Höhenflügen auf.

Das Umsteuern wird nicht einfach

Zukunftsforscher hatten sich das anders ausgedacht. Noch in den 70er Jahren präsentierten Lexika Visionen der Mobilität von morgen. Schwebebahnen waren da zu sehen, elektronisch gesteuerte Fahrzeuge, vom klassischen Auto keine Spur. Aber so wie George Orwell mit dem Roman “1984” über den totalen Überwachungsstaat zumindest zeitlich ziemlich daneben lag, haben sich auch die Mobilitätspropheten geirrt. Vom Prinzip her sind Auto und Flugzeug Vehikel aus dem vergangenen Jahrhundert geblieben.

Bislang gab es für das Umdenken kaum einen Anreiz. Ja, da ist die Angst vor der Erderwärmung, die vorangetrieben wird, wenn Stoffe wie Öl verbrannt werden. Doch wenige Mechanismen steuern so schnell und effizient wie der Preis. Nirgendwo ist das derzeit so gut zu sehen wie im Land der großen Limousinen und Roadmovies. Kaum stieg dort der Benzinpreis auf für Amerikaner zuvor ungekannte Höhen, blieben die Autohersteller auf Spritfressern sitzen. Den frisch importierten Straßenwinzling Smart gibt es dagegen nur noch auf Warteliste.

Das Umsteuern wird schwer. Hat doch das Öl die Individualisierung erst möglich gemacht, die eines der Grundprinzipien westlicher Gesellschaften ist. Das Auto erlaubte es den Menschen, ihren Wohnort und Arbeitsplatz freier zu wählen als zuvor. Es hat die Entwicklung unserer Städte bestimmt. Viel mehr noch: Das Auto ist für viele Menschen Ausdruck des Selbst. Es transportiert Status, Lebensgefühl und eine Idee von Selbstbestimmung. In den Schwellenländern ist das eigene Auto heute für viele der erste Schritt zum Aufstieg in die Mittelschicht. Das Flugzeug wiederum hat die Globalisierung beflügelt. Erst mit dem modernen Luftverkehr wurde der massenhafte Austausch von Waren und Menschen, und damit der schnelle Transport von Wissen und Fertigkeiten Alltag.

Künftig geht es deshalb nicht nur darum, alternative Energiequellen zu entwickeln und an neuen Antriebsformen für Fahr- und Flugzeuge zu basteln. Es geht um ein verändertes Verständnis von Mobilität, ja Individualität. Dank der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien sind die Chancen dafür so gut wie nie zuvor. Dies betrifft vor allem die Arbeitswelt. Bei manchen US-Konzernen arbeitet bereits ein großer Teil der Beschäftigten von zu Hause aus oder unterwegs. Damit entfällt der Frust im Stau oder an der Tankstelle; die Firma muss weniger Büros heizen oder kühlen – ein doppeltes Sparmodell. Datenleitungen ermöglichen den Verzicht auf Dienstreisen. Statt dem Flug nach Übersee gibt es Video-Konferenz und E-Mail, das ist billiger und schont Kräfte.

Die Firmen nutzen das. So meldete die Internationale Luftverkehrsorganisation IATA am Donnerstag einen Einbruch bei den Zahlen der Passagiere in den teuren Geschäftsreise-Klassen. Viele Unternehmen haben ihre Reiseetats drastisch gekürzt und planen, sie wegen neuer Kommunikationsmöglichkeiten auch bei besserer Konjunktur nicht wieder aufzustocken. Das Internet bietet – man mag es mögen oder nicht – auch neue Spielarten der Selbstverwirklichung. Vielleicht ersetzt so mancher Chat, so manche Präsentation in elektronischen Tagebüchern und Poesiealben wie MySpace das, was für junge Leute früher die Erkundungstour mit dem Moped oder dem ersten Auto war.

Die Politik muss vor allem eine intelligente Stadtentwicklung sicherstellen. Wenn Menschen weniger Auto fahren sollen, brauchen sie ein Lebensumfeld, in dem sie gut versorgt sind und aus dem sie nicht flüchten müssen. Es gilt, die dezentralen Zentren mit Läden, Kindergärten, Grünflächen, öffentlichem Nahverkehr, Kultur- und Sportangeboten zu stärken und niemanden zu belohnen, der alles nur mit dem Auto erreicht.

Der Preisanstieg beim Treibstoff kommt vielleicht noch rechtzeitig. Innovationen müssen her, bevor sich Millionen Bewohner von Schwellenländern ins eigene Auto setzen. Das Öl hat die Menschen zu dem gemacht, was sie heute sind. Es ist Zeit für Alternativen.

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