Dubious Security

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Zweifelhafte Sicherheit

Von Gunter Hofmann | © ZEIT ONLINE 15.8.2008 – 19:37 Uhr

In Polen wird eine US-Raketenabwehr installiert. Den Riss in der Nato wird das erst einmal vertiefen – noch mehr als der Kaukasus-Krieg ohnehin zunächst erahnen ließ

Mit dem Krieg und der Krise im Kaukasus hat das nichts zu tun! Das ist die Lesart, die in Warschau verbreitet und mit der die Entscheidung von Regierungschef Donald Tusk erläutert wird, dem Bau eines Raketenabwehrschildes auf polnischem Boden zuzustimmen. Seit dem Jahr 2005 ist darüber verhandelt worden. Die damalige nationalkonservative Regierung unter Jaroslaw Kaczynski hatte sich praktisch bedingungslos einverstanden erklärt, obwohl das westliche Bündnis tief gespalten war in der Frage.

Nach dem Wahlsieg Tusks stellte Warschau in Washington hohe Bedingungen, vor allem ging es um beträchtliche Dollarbeträge, mit denen die USA zur Modernisierung des polnischen Militärs beitragen sollten. Nicht einen Bruchteil davon wollten die USA aufbringen.

Zudem verlangte Polen eigene neue Abwehrraketen, die sie vor möglichen russischen Angriffen schützen könnten, denn Russland hatte von Anbeginn die Nato, Washington und speziell Polen davor gewarnt, diese Missile-Defense-Idee zu realisieren. In Moskau werde das eindeutig als Akt verstanden, der sich gegen Russland richte, nicht, wie behauptet, gegen „Schurkenstaaten“, und der das Land weiter einkreisen solle.

Den nächsten Beweis für Moskau lieferte Washingtons Drängen, Georgien und die Ukraine in die Nato zu holen – auch das in der Nato zutiefst umstritten. Zeitweise erweckte die polnische Regierung sogar den Eindruck, sie wolle das Projekt scheitern lassen, weil sie nicht zu neuem Dissens in Europa beitragen mochte.

Neben zehn Abfangraketen mit Mehrfachsprengköpfen in Polen soll auch auf tschechischem Boden ein dazugehöriges Radarsystem installiert werden. Mit breiter Mehrheit wehrte sich die tschechische Öffentlichkeit dagegen, weil sie nicht zur „Zielscheibe“, wie es hieß, atomarer Raketen von „Schurkenstaaten“ oder aus Russland werden möchte. Vor wenigen Wochen jedoch stimmte Prags Regierung dem Radarschirm endgültig zu.

Vor dem Hintergrund fällt es schwer, die Ankündigung Donald Tusks von Donnerstagabend nicht unmittelbar im Text des Georgien-Konfliktes zu lesen. Stunden zuvor hatten sich die Chefunterhändler beider Seiten verständigt, obgleich, wie es hieß, „technische Fragen“ noch ungelöst seien. Wie die Vereinbarung im Detail aussieht und ob Washington nun plötzlich den gewaltigen polnischen Wünschen entspricht, ist noch nicht klar. Allerdings werden in Polen ständige Luftabwehrraketen vom Typ Patriot stationiert, das gehörte zu den Warschauer Bedingungen.

Dass Moskau prompt den dementierten Zusammenhang herstellen würde, war klar. So geschah es auch. Ohnehin zählte Polens Präsident Lech Kaczynski zu den Staatschefs, die eilends in Tiflis der georgischen Regierung ihre Solidarität bekundet haben. Für Polen hatte sich wie für die baltischen Staaten Russland als Aggressor geoutet. Wenige Tage später zu verkünden, der „Rubikon ist überschritten“, im Raketenschild-Streit sei man sich nun einig, werden aber auch andere als politische Demonstration verstehen. Eine Demonstration gegen Moskau und für einen „harten“ Kurs in Washington. So ist es gedacht.

Der Riss in der Allianz jedoch wird durch die Entscheidung in dem Augenblick noch vertieft. Bei einer Nato-Ratssitzung in Brüssel hatte sich gerade erst herausgestellt, dass keineswegs Einigkeit darüber herrscht, die gesamte Russlandpolitik infrage zu stellen. Angela Merkel hat während ihres Gesprächs in Sotschi mit Präsident Medwedew bekräftigt, dass die Gespräche über eine Einbeziehung Russlands in die Raketenabwehr trotz der “Verschärfung der Diskrepanzen” fortgesetzt werden müssten: “Wir waren an diesem Punkt schon mal weiter”, fügte sie hinzu. Anders als im Irak-Konflikt zählen diesmal nämlich nicht nur Deutschland und Frankreich zu denen, die warnen, in der Konfrontation mit Russland werde man nichts erreichen, Kooperation sei dringend nötig; auch Italien und Spanien fanden sich in Brüssel auf dieser Seite.

Lediglich Großbritannien, die neuen ostmitteleuropäischen EU-Mitglieder und Washington optierten für eine harte Linie – wobei nicht klar ist, was das heißt. Tschechien, hieß es aus Brüssel, habe sich in dieser Fraktion als Scharfmacher hervorgetan – was nicht überraschend ist. Nun plötzlich kommt die Raketenschild-Entscheidung hinzu. Von ihr sagt das Weiße Haus in Washington zwar, dieses Abwehrsystem sei „ein substanzieller Beitrag für das kollektive Sicherheitssystem der Nato“. Das aber hat die Nato schon vor dem Kaukasus-Krieg auseinanderdividiert. Selbst die Befürworter unterstützten die Idee eher aus Loyalität zu Washington denn aus der Überzeugung heraus, es erhöhe die Sicherheit.

Jetzt erst recht werden die Skeptiker argumentieren, in Augenblicken der Krise werde die Spaltung in der Allianz noch vertieft, statt einen politischen Konsens zu suchen. Dass Polen – bei der Geschichte, die es mit Russland hat – die Kraft fehlt, die Prioritäten anders zu setzen, sagen wir: europäischer, vermag man nachzuvollziehen. Dass aber die Administration in Washington zu diesem Zeitpunkt Kalte-Kriegs-Stimmung schürt und die Bündnispartner noch weiter zersplittert, heißt nur: Die derzeit Verantwortlichen haben aus den Fehlern der letzten Jahre offenbar nichts gelernt.

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