Elections Will Not Change the World

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Wahlen verändern die Welt nur wenig

VON JEAN-CLAUDE JUNCKER

Politik fängt mit der Beobachtung der Wirklichkeit an. Man kann die Wirklichkeit nur dann verändern und verbessern, wenn man sich die bestehenden Verhältnisse vor Augen führt, sie unter die Lupe nimmt, sie so lange kehrt und wendet, bis man ihre potenzielle Weiterentwicklung spüren und erahnen kann.

Die lange und intensive Betrachtung der Wirklichkeit ist notwendig, wenn es um innenpolitische und vor allem um gesellschaftspolitische Veränderungen geht: Nur intensives Zuschauen und Zuhören erlaubt es, das Niesen zukünftiger Transformationsflöhe zu hören. Was in der Innen- und Gesellschaftspolitik das Grundmuster politischer Methode sein sollte, stimmt in der Außenpolitik allemal. Mit einem qualitativen Unterschied allerdings: Das Betrachten und das Zuhören sind etwas schwieriger. Wer aus zu großer Entfernung auf die Dinge der sonstigen Welt sieht, der wird Opfer der nationalen oder kontinental-europäisch bedingten Verengung des Blickwinkels.

Wer nicht in der Oberflächlichkeit ferner und getrübter Observation der Verhältnisse andernorts versinken möchte, muss sich genauer umsehen und informieren. Er muss den Puls dort fühlen, wo er schlägt: vor Ort. Der Puls der Zeit schlägt zurzeit vor allem in Washington und Moskau, denn das Zusammenführen der Eindrücke, die man bei Amerika- und Russlandreisen gewinnt, ergibt den Stoff, aus dem in den nächsten Jahren Weltpolitik gemacht wird.

Wir in Europa werfen auf den amerikanischen Wahlkampf, der sich auf den Höhepunkt zu bewegt, einen strikt europäischen Blick. Das heißt: Wir verwechseln die Probleme, die wir im Umgang mit den USA haben, mit den Problemen, die die Amerikaner mit sich selbst haben. Ergo denken wir, dass die Irakfrage wahlentscheidende Bedeutung in den USA hätte. Wir in Europa sind mehrheitlich gegen den Irakkrieg. Wir glauben zu wissen, dass die Amerikaner den Krieg im Irak verloren und den Frieden nicht gewonnen haben. Wir in Europa denken, dass derjenige, der den Frieden nicht gewonnen hat, die Wahl verlieren muss.

Doch in den USA ticken die Uhren anders. Dort wird derjenige die Wahl verlieren, der sich nicht mit den US-Boys im Irak solidarisiert. Amerika befindet sich im Krieg. Die Amerikaner sind kein Soldatenvolk. Aber sie sind ein Volk mit Soldaten. Wer ihnen die kalte Schulter zeigen würde, der würde die Präsidentschaftswahl ohne jeden Zweifel verlieren. Die Irakfrage wird mithin keine wahlentscheidende Bedeutung haben können, weil kein Präsidentschaftskandidat den amerikanischen Soldaten die Unterstützung entziehen wird. Die Hoffnung, ein Sieg der US-Demokraten im November führe dazu, dass das Kriegsblatt im Irak über Nacht gewendet würde, spricht Bände für die naive Amerika-Betrachtung vieler Europäer. So, wie es auch europäischem Wunschdenken entspricht, einen möglichen Wahlsieg von Clinton/Obama oder Obama/Clinton zum Auftakt verbesserter US-EU-Beziehungen zu apostrophieren.

Jeder demokratische US-Präsident wird die Europäer vor allem in der sich dramatisch entwickelnden Afghanistanfrage zum Rütlischwur drängen und von ihnen ein gesteigertes Engagement am Hindukusch einklagen. Die Europäer haben jedoch die Grenzen ihrer militärischen Kapazität fast schon überschritten und werden auf zusätzliche Truppenanforderung nur negativ reagieren können. Ihr heute schon absehbares „non possumus“ wird im eventuell demokratisch bestellten Weißen Haus zu öffentlich geäußerten Schlussfolgerungen führen, dass auf die Europäer kein Verlass ist. Die transatlantische Spannungsdichte wird dadurch noch sichtbarer werden, dass – egal wer im November das Rennen um das Weiße Haus für sich entscheidet – die US-amerikanischen Vorzeichen heute schon auf einen Anstieg protektionistischer Tendenzen stehen, die sich in allen Fällen vornehmlich gegen Europa richten werden. Fazit: Die Europäer träumen von einer leutseligen Nach-Bush-Ära, doch leutselig wird diese nicht werden.

Auch der europäische Moskau-Reisende gewinnt zurzeit ein farbenreicheres Bild als dasjenige, das sich aus entfernterer Beobachtung ergibt. Ein an Jahren junger Präsident folgt einem an Erfahrungen reichen Präsidenten. Viele in Europa denken, das Neben- und Miteinander mit dem Neuen würde einfacher und reibungsfreier als das Auf und Ab mit Putin. Dieser Eindruck täuscht. Wer den neuen russischen Präsidenten über den „europäischen Verrat in der Kosovo-Frage“ hat reden hören, ihn hat sagen hören, dass die Anerkennung eines unabhängigen Kosovo für lange Jahre „eine offene Wunde“ in den europäisch-russischen Beziehungen bleiben wird, der merkt: Der neue russische Präsident wird die Außenpolitik allenfalls in Nuancen verändern. Die Grundlinien der Politik bleiben.

Wer wie ich in weniger als drei Wochen mit Bush, Putin, Medwedjew neun Stunden lang hat reden und kontrovers debattieren können, kommt zu folgendem Schluss: Wahlen verändern die Welt weit weniger, als wir denken. Das Meiste bleibt beim Alten.

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