USA verabschieden sich vom reinen Kapitalismus
Von Martin Dowideit und Olaf Gersemann 13. September 2008, 12:54 Uhr
Amerika als Gralshüter des Kapitalismus diese Zeiten scheinen vorbei zu sein. In der Not werden kapitalistische Grundsätze über Bord geworfen. Verstaatlichungen, Regulierungswahn, immer neue Milliardenausgaben: In den USA ist der starke Staat auf dem Vormarsch.
“Der Staat ist nicht die Lösung, er ist das Problem”: Der Wahlkampfslogan von Ronald Reagan aus dem Jahr 1980 hat über Jahre hinweg die amerikanische Wirtschaftspolitik geprägt: Steuern runter, Märkte deregulieren, Unternehmen privatisieren ? die Marktkräfte sollten es richten. Die Rhetorik ist noch zu hören. Aber die Realität sieht anders aus.
Aus der Autostadt Detroit war General-Motors-Chef Rick Wagoner am Freitag nach Washington gereist. Vor Senatoren forderte er auf dem Kapitolhügel Zugang zu Kapital aus der Hauptstadt. Im vollbesetzten Saal Dirksen G50 des US-Kongresses erntete er prompt zustimmendes Nicken.
Die Reaktion war fast zu erwarten. Schließlich soll schon der Namenspatron des Gebäudes, der Ex-Senator Everett Dirksen, gesagt haben: Eine Milliarde hier, eine Milliarde da und bald redet man über richtiges Geld. Nur dass heutzutage in Washington selten von einstelligen Milliardensummen die Rede ist, wenn über neue Ausgabenprogramme debattiert wird sondern regelmäßig von zwei- und immer häufiger von dreistelligen Beträgen.
Die großen Autofirmen aus Detroit wollen 50 Milliarden Dollar in Form von zinsvergünstigten Staatskrediten. Ein Paket von Energiesubventionen aus dem vergangenen Jahr kostet 80 Milliarden Dollar, allein für Ethanol-Subventionen werden gegenwärtig zehn Milliarden Dollar jährlich ausgegeben. Das Konjunkturpaket aus dem Frühjahr schlug mit 150 Milliarden Dollar zu Buche, ein zweites, das vor allem der demokratische Präsidentschaftskandidat Barack Obama fordert, würde weitere 50 Milliarden erfordern. Und die gerade lancierte Rettung der zuvor kräftig von Behörden und Politikern gepäppelten Immobilienbanken Fannie Mae und Freddie Mac könnte gar 200 Milliarden Dollar verschlingen. Die Ära von big government ist wieder da, mehr denn je, schreibt das Wall Street Journal.
Der Staat ist nicht die Lösung, er ist das Problem: Der Wahlkampfslogan von Ronald Reagan aus dem Jahr 1980 hat über Jahre hinweg die amerikanische Wirtschaftspolitik geprägt: Steuern runter, Märkte deregulieren, Unternehmen privatisieren die Marktkräfte sollten es richten. Die Rhetorik ist noch zu hören, im aktuellen Wahlkampf vor allem von dem republikanischen Kandidaten John McCain. Aber die Realität sieht längst anders aus.
Natürlich: Kapitalismus pur, das gab es in Amerika auch schon bisher nicht. Profisportarten wie Base- und Basketball sind durchsetzt mit komplizierten Umverteilungsmechanismen für die Vereine, die in Kontinentaleuropa als sozialistisch gebrandmarkt werden würden. Auch blieben staatswirtschaftliche Inseln stets erhalten. Der United States Postal Service, die amerikanische Post, ist bis heute in Staatsbesitz, Änderung ausgeschlossen. Da kann schon die Schließung eines einzelnen Provinz-Postamts zum Politikum in der fernen Hauptstadt werden so geschehen etwa im Fall des 400-Seelen-Dorfes Walpole im Neuengland-Staat Maine.
Und in der Not werden eherne Grundsätze schon seit Langem mit großer Regelmäßigkeit über Bord geworfen. Anfang der 70er-Jahre rettete die US-Regierung den Rüstungskonzern Lockheed Martin, einige Jahre später sprang sie dem pleitebedrohten Autohersteller Chrysler zur Seite. Und Ende der 80er-Jahre beschützte der Staat die Sparkassen, die damals gleich zu Hunderten kollabierten; die Rechnung für den Steuerzahler betrug fast 125 Milliarden Dollar.
Dennoch hat das, was neuerdings passiert, eine neue Qualität. Ob kleine Probleme oder große Krisen: Überreaktionen der Wirtschafts- und Finanzpolitik sind die Regel geworden. Nach den Bilanzskandalen bei Enron & Co. vor fünf Jahren wurde in wenigen Wochen der brachiale Sarbanes-Oxley-Act durch den Gesetzgebungsprozess gepeitscht. Rasch stellte sich heraus, dass das Regelwerk eine Überregulierung ist; viele ausländische Unternehmen gaben verängstigt ihre Börsennotierung an der Wall Street auf, der Finanzplatz New York verlor zusätzlichen Boden gegenüber der Londoner City.
Und nun Fannie und Freddie. Deren De-facto-Verstaatlichung ist die größte Nationalisierung in der Geschichte der Menschheit, giftet der Ökonom Nouriel Roubini. US-Finanzminister Henry Paulson habe den radikalsten Regimewechsel in der globalen Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahrzehnte vollzogen: Willkommen in der Vereinigten Sozialistischen Staatsrepublik von Amerika.
Bush hat kapituliert
Bei der Aufregung um die Immobiliengiganten ging eine weitere Ankündigung der Regierung von George W. Bush fast unter: Washington will notleidende Hypotheken-Derivate erwerben, um den Markt zu stabilisieren. Angesichts der sich noch immer ausweitenden Häuser- und Finanzkrise auf den ersten Blick ein einleuchtendes Unterfangen. Nur: Mit der gleichen Begründung ließe sich auch rechtfertigen, dass der Staat ganze Unternehmen einfach aufkauft, nur weil sie gerade mal malade sind.
Angetreten waren die Bushisten mit ganz anderem Anspruch. Starving the beast, die Bestie Staat aushungern: Das war das erklärte Ziel von vielen Bush-Getreuen, als sie vor bald acht Jahren an die Macht kamen. Durch Steuersenkungen wollten sie die Einnahmebasis verkleinern und so verhindern, dass die Regierung viel Geld zum Ver- und Umverteilen hat.
Die Strategie ging nicht auf. Die Steuern wurden gesenkt, aber die Ausgaben wuchsen. Um gut acht Prozent haben die amerikanischen Bundesbehörden im jetzt zu Ende gehenden Haushaltsjahr ihre Ausgaben gesteigert; im kommenden Jahr dürfte das Plus noch einmal bei sieben Prozent liegen.
Das liegt keineswegs nur an den Mehrausgaben für innere und äußere Sicherheit seit den Terroranschlägen des 11. September. Auch die Investitionen in die Infrastruktur wachsen gar nicht so stark, wie man es nach Hurrikan Katrina 2005 und dem spektakulären Brückenzusammensturz in Minneapolis vor einem Jahr erwarten sollte. Der wohlfahrtstaatlich-industrielle Komplex wurde gehätschelt, sagt David Boaz, Executive Vice President des Cato Institute, einer liberalen Denkfabrik in Washington. Statt Straßen, Brücken und Dämme zu bauen, wurde mitternächtliches Basketballspielen gefördert, sagt Boaz.
Nachhaltig ist das alles nicht: Der heutige Aktionismus wird erkauft zulasten künftiger Handlungsfähigkeit. Auf 5,3 Billionen Dollar taxieren die Experten der Investmentbank Goldman Sachs die Haushaltsdefizite, die der amerikanische Bund in den kommenden zehn Jahren aufhäufen wird.
Auf noch längere Sicht sieht alles noch düsterer aus. Vor zehn Jahren waren die langfristigen Aussichten furchtbar, sagt Laurence Kotlikoff, ein Finanzwissenschaftler von der Boston University. Seither haben sie sich drastisch verschlechtert. Besonders die Ausdehnung der Ansprüche von kranken Senioren, beschlossen im Präsidentschaftswahlkampf 2004, schlägt zu Buche.
Kotlikoff, der vor Jahren als Erster die sogenannten Generationen?bilanzen erstellte, hat errechnet: Der Barwert der heute schon Rentnern und anderen Gruppen für die Zukunft zugesagten Staatsausgaben übersteigt den Barwert der Staatseinnahmen bei gegenwärtigen Steuersätzen um 70 Billionen Dollar.
Die Lösung wäre allenfalls noch mehr Staat noch viel mehr Staat. Denn um die Lücke zu schließen, müssten sofort und für alle Zeiten die Rentenversicherungsbeiträge verdoppelt werden, sagt Kotlikoff. Das, natürlich, ist so wenig durchsetzbar wie wünschenswert.
Der Staat ist im Grunde bankrott, folgert Kotlikoff, letztlich werde der Regierung über kurz oder lang nichts übrig bleiben, als ihre Schulden loszuwerden, indem sie sie per massiver Geldentwertung entwertet. Bemerkenswert, sagt Kotlikoff, ist eigentlich nur, dass überhaupt noch ein ausländischer Anleger bereit ist, amerikanische Staatsanleihen zu halten.
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