Tremors on Wall Street

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16.09.2008

Beben an der Wall Street

Von Rainer Rupp

Als am Montag morgen an der Wall Street die Menschen zu ihren Arbeitsplätzen kamen, war die Welt nicht mehr so wie zuvor. Über Nacht hatten sich zwei der alteingesessenen Giganten des Finanzmarktes von der Bühne verabschiedet, und die Behörden und Notenbanken bereiteten sich weltweit auf schwere Erschütterungen an den Finanzmärkten vor. Die Investmentbank Lehman Brothers hatte unter der Last von 60 Milliarden Dollar Schulden aus faulen Immobilienkrediten aufgegeben und Insolvenz angemeldet. Zuvor waren alle Versuche, das 158 Jahre alte Traditionsunternehmen zu retten, fehlgeschlagen. Auch der Staat war in diesem Fall nicht bereit einzuspringen. Zugleich vereinnahmte die Bank of America den ebenso bekannten Finanzkonzern Merrill Lynch und zahlte dafür 50 Milliarden Dollar in eigenen Aktien. Damit sind nach Bear Stearns drei von ehemals fünf großen Investmentbanken des US-Finanzzentrums verschwunden, und alle Beobachter fragen: Wer ist der nächste, und droht jetzt der Kollaps?

Im Laufe des Tages wurde diese Frage stets aufs neue konkretisiert. So gelten die größte Bank Floridas, Bank­United, und die Sparkasse Washington Mutual als extrem pleitegefährdet. Aber auch international erfaßte das Beben an der Wall Street Geldhäuser und Versicherungen. Vor allem deren wichtigste Komplizen, die britischen Bankkonzerne, bekamen das zu spüren. So verlor die HBOS-Aktie (Halifax Bank of Scotland) bis zum frühen Nachmittag fast 30 Prozent.

Kursrückgänge mußten auch BRD-Bankentitel hinnehmen. Am frühen Nachmittag standen die drei Großen, Commerzbank (minus 15 Prozent), Deutsche Bank (minus zehn Prozent) und Allianz (minus neun Prozent) unter Druck. Angesichts der instabilen Lage pumpte allein die Europäische Zentralbank 30 Milliarden Euro zusätzlich in die Märkte, die Bank of England umgerechnet 6,3 Milliarden Euro. Die US-Zentralbank hatte bereits am Sonntag Maßnahmen zur Erhöhung der Liquidität angekündigt.

Seit über einem Jahr haben Politiker und Medien immer wieder versucht, die schwelende Finanzkrise gesundzubeten. Vorübergehend sogar mit Erfolg. Denn obwohl sie längst begonnen hatte, sich auf die Realwirtschaft auszudehnen, war es den Meinungsmachern wiederholt gelungen, an den Börsen neue Haussen herbeizureden, sämtlich jedoch Strohfeuer. Symptomatisch für den fortschreitenden Vertrauensschwund der US-Amerikaner in die Wirtschaftspolitik ihrer Regierung ist, daß man selbst in Finanzkreisen immer weniger den offiziellen Kennzahlen glaubt. Seit längerem gilt dies insbesondere für die Inflation, die von privaten Instituten inzwischen als doppelt so hoch gemessen wird, wie von offizieller Seite angegeben. Als das US-Handelsministerium vergangenen Monat die Kennzahl für das Wirtschaftswachstum im zweiten Quartal 2008 trotz der allgemein bekannten miesen Lage von 1,9 auf 3,3 Prozent nach oben korrigierte, erhob sich lautstarker Protest. Diese Revision habe »nicht einmal den Geruchstest für wirtschaftliche Vernunft bestanden«, klagten bekannte Ökonomen wie John Ryding und Conrad DeQuadros in der Zeitschrift RDQ Economics. Dennoch hatte dies wesentlich zur Erholung des Dollarkurses beigetragen. Jetzt allerdings scheint es für Trickser und Lügner eng zu werden, denn für die US-Wirtschaft bahnt sich womöglich eine Katastrophe an. Erst vergangene Woche hatte Analystin Meredith Whitney vorausgesagt: »Das Schlimmste liegt noch vor uns.«

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