Obama Profits From The Crisis

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Obama, der Krisengewinnler

Von Thomas Kleine-Brockhoff | © ZEIT ONLINE 30.9.2008 – 14:27 Uhr

Die Amerikaner wollen vom Laissez-faire-Kapitalismus nichts mehr hören: Wie das Chaos an der Wall Street den Wahlkampf prägt

Wahrscheinlich beginnt in dieser Woche die Regierung Obama. Nein, nicht die Amtszeit des Präsidenten Obama. Denn Kandidat Obama kann noch immer verlieren. Aber die Regierungsphilosophie des Barack Obama erobert jetzt Amerika. Mit dem immer noch umkämpften Rettungspaket für die Bank-Giganten von der Wall Street geht unweigerlich jene Ära zu Ende, die mit Ronald Reagan begann: freie Märkte, niedrige Steuern, Deregulierung.

Alle anderen Weltregionen, vor allem Europa, ließen die Vereinigten Staaten ökonomisch jahrzehntelang weit hinter sich. Einen fantastischen Wohlstand hat die Phase des Laisser-faire-Kapitalismus Amerika beschert. Bis zum Exzess. Nun, da die Blase geplatzt ist, dürfte eine Periode staatlicher Interventionen ins Wirtschaftsleben folgen. Wahrscheinlich keine europäische Regulierungswut, sondern – laut Barack Obama – “freie” statt “wilde” Märkte.

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Binnen zwei Wochen hat eine Philosophie des Wirtschaftslebens bankrott anmelden müssen; die Wall Street ist grundlegend neu strukturiert; und der Wahlkampf steht Kopf. Die Bürger wollen nun nichts mehr von unregulierten Märkten hören, sondern von Ideen, Märkte zu bändigen. Und damit wollen sie von Barack Obama hören. Noch vor Kurzem hatte sich der Kontrahent John McCain einen kleinen Vorsprung herausgearbeitet, doch der ist nun dahin. Der Krisengewinnler heißt Barack Obama.

Zunächst mal, weil mit der Finanzkrise das Thema gewechselt wurde. Nicht mehr Irak, sondern Wirtschaft. Nicht mehr Palin, sondern Finanzkrise. Und dann, weil Chaos herrscht. Den Wandel wollten die Amerikaner seit Langem. Aber jetzt, mitten in dieser stündlich wachsenden Wirrnis, wollen sie erst recht einen neuen, einen frischen Start. Jede Stunde Chaos hilft Barack Obama.

Erinnern wir uns jener fernen Zeit, sechs Wochen mag es her sein, da stand Obama ein Kandidat gegenüber, der zwar zugab, die Wirtschaftspolitik nicht zu seinen Stärken zu zählen. Aber er hatte doch eine respektable Geschichte als Kämpfer gegen Verschwendung und für niedrige Steuern vorzuweisen. Doch in den Wochen der Krise entpuppte McCain sich nicht nur als impulsiv, sprunghaft, ja unberechenbar.

Er musste auch erleben, wie Journalisten seine Vergangenheit als Deregulierer aus den Archiven hervorholten. McCain steht plötzlich für die Exzesse der Wall Street, gegen die er zugleich wettert. Die Krise hat McCains Hauptbotschaft unterminiert, derzufolge sich Wandel und Reform auch republikanisch buchstabieren ließen.

Erinnern wir uns sechs Monate zurück. Damals jagte Hillary Clinton durch die Arbeiterquartiere des Mittleren Westens und empfahl sich als Kandidatin des kleinen Mannes. Barack Obama kam manchem wie ein Kandidat aus der dritten Galaxie vor, abgehoben und professoral. Für die Sorgen und Nöte der arbeitenden Bevölkerung schien der Harvard-Absolvent keinen Sinn zu haben. Sogar, als Obama sich die Kandidatur schon gesichert hatte, feierte Hillary Clinton in einzelnen Industrieregionen weiterhin große Siege. Noch vor wenigen Wochen sagte einer der führenden Demokratischen Strategen, Obama habe die “Rucola-Wähler” sicher, nun benötige er die “Schinken und Käse-Waählerschaft”. Will sagen: Cappuccino-Trinker und Biokost-Fans und andere städtische Linksliberale reichen nicht; Gewerkschafter, die mittags ein altmodisches Doppeldecker-Sandwich essen, braucht Obama.

Die Krise, so scheint es, bringt diese Gruppe den Demokraten näher. Bei der ersten Fernseh-Debatte präsentierte sich Obama von der ersten Sekunde an erfolgreich als Kandidat der kleinen Leute. Gewiss, er tat es nicht so emotional und nicht so beispielschwanger wie weiland Bill Clinton, aber doch effektiv. Dass die Krise für “Main Street” schon “viel früher” begonnen habe als für “Wall Street”, zählt zu den erfolgreichsten Sätzen aus Obamas Wahlkampfrede.

Jeder weiß eben, dass die Arbeitslosigkeit schon länger anstieg, besonders im ländlichen Raum. Jeder weiß, dass die Löhne seit Jahren stagnieren. Im direkten Vergleich mit John McCain wirkt nun sogar der kühle Barack Obama wie ein Arbeiterführer. John McCain habe den Begriff “Mittelschicht” in seinen Debatten-Beiträgen nicht einmal erwähnt, ruft Barack Obama seinen Zuhörern nun bei jeder Gelegenheit zu. Zehntausende johlen bei solchen Sätzen, jedes Mal.

Dank des Dramas an der Wall Street hat Barack Obama in den landesweiten Umfragen erstmals einen substanziellen Vorsprung herausgearbeitet. Acht Prozentpunkte sollen es sein. Und das Momentum liegt weiterhin bei Obama. Doch bekanntlich wählt Amerika nicht einheitlich, sondern in 52 einzelnen Bundesstaaten. Wer sich die Bundesstaaten anschaut, stellt fest, dass der Vorsprung dort, wo es zählt, weiterhin hauchdünn ist.

In Ohio, dem Bundesstaat, der 2004 die Wahl entschied und es diesmal wieder tun könnte, liegt weiterhin John McCain knapp vorn. Die Achterbahnfahrt, die sich amerikanischer Wahlkampf nennt, geht weiter.

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