The Myth Of The Market

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Die Mär vom Markt

Ein Kommentar von U. Schäfer

Jahrelang wurde gepredigt, der Markt sei perfekt. Doch die Finanzkrise zeigt, wo seine Schwächen liegen – nämlich vor allem im menschlichen Bereich. Die Rolle des Staates muss deshalb neu definiert werden.

Der Homo oeconomicus ist ein seltsames Wesen. Er weiß alles, versteht alles, kennt keine Gefühle. Mit diesem rein ökonomisch denkenden Durchschnittsmenschen versuchen die meisten Wirtschaftswissenschaftler, Wirtschaftsführer und Wirtschaftsjournalisten zu erklären, warum der Markt, vor allem der Finanzmarkt, angeblich perfekt sei; und warum der Staat dort so gut wie nichts zu suchen habe.

Jahrelang behaupteten die Vertreter eines platten Neoliberalismus, dass die Börse das Maß aller Dinge sei. Sie huldigten dem Prinzip des Shareholder-Value, also der einfältigen Lehre, dass Unternehmen vor allem dazu da seien, das Vermögen der Aktionäre zu mehren. Sie gaben sich dem Glauben hin, dass es mit obskuren Derivaten gelungen sei, die Risiken an den Kapitalmärkten verschwinden zu lassen.

Gedankenloses Nachplappern

Diese Mär hat in den letzten 15 Jahren alle kirre gemacht. Selbst die Anhänger des Neoliberalismus erinnerten sich nicht mehr an den Satz des deutschen Ökonomen Alexander Rüstow, der 1938 den Begriff des Neoliberalismus geprägt hatte.

Dieser neue Liberalismus, fordert Rüstow, müsse sich vom Laisser-faire des 19. Jahrhunderts unterscheiden. Der Neoliberalismus erfordere “einen starken Staat, einen starken Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten, da, wo er hingehört.” Stattdessen drückte die Wall Street der Welt ihre Regeln auf. Und in Europa wurden sie gedankenlos nachgeplappert.

Gier und Euphorie, Angst und Panik

Nun, in der schlimmsten Finanzkrise seit acht Jahrzehnten, wird diese Mär jeden Tag aufs Neue entlarvt. Und der Homo oeconomicus entpuppt sich plötzlich als ein Wesen, das nicht rational handelt, sondern Gefühle zeigt, die in den alten Lehrbüchern nicht vorgesehen sind: Gier und Euphorie, Angst und Panik.

Sie führen dazu, dass die Finanzmärkte immer wieder verrückt spielen, und dazu, dass das Weltbild, das von Ökonomen, Unternehmern und vielen Medien geprägt wurde, nicht mehr stimmt.

Die Gier: Sie steht am Anfang jedes Booms. Ohne sie hätte es die Roaring Twenties nicht gegeben, die Wilden Zwanziger, die in der Weltwirtschaftskrise mündeten. Ohne sie hätte es keine New Economy gegeben, die wilde Zeit des Internet-Booms in den späten 90ern, die mit dem Crash des Jahres 2000 endete.

Und ohne sie hätten Investmentbanken und Hedgefonds in den letzten Jahren nicht den Markt für Kreditpakete und Derivate derart wüst in die Höhe getrieben – ein Markt, der nun zusammenbricht und die Weltwirtschaft möglicherweise mit in den Abgrund reißt. Die Gier ist bei großen und kleinen Anlegern zu Hause, aber auch in vielen Unternehmen, deren Führungskräfte sich exorbitante Gehälter gönnen, während sie ihren Beschäftigten am liebsten asiatische Löhne verpassen würden.

Die Euphorie: Sie taucht auf, wenn die Kurse zu steigen beginnen und die Medien plötzlich immer mehr Geschichten über den wundersamen Aufschwung erzählen, über eine neue Ära, die angeblich anbricht. So war es in den 20er Jahren, als die westlichen Gesellschaften sich für Radio und Flugzeug begeisterten, so war es in den 90er Jahren, als das Internet seinen Siegeszug begann, und so war es auch im Derivate-Boom des 21. Jahrhunderts: Alle sahen nur, dass die Banken gut verdienen – also musste alles gut sein.

Diese Geschichten schaffen sich ihre eigene Wahrheit. Sie werden von Journalisten, die sich von der Euphorie mitreißen lassen, in die Welt gesetzt, sie werden von Lesern, die in vielen Fällen zugleich Anleger sind, begeistert aufgesogen, und sie führen dazu, dass noch mehr Menschen an die Börse drängen. Alle glauben, dass die Kurse weiter steigen – dies lässt die Kurse weiter steigen, was Wirtschaft und Medien als Beleg dafür nehmen, dass ihre Geschichten richtig sind.

Flucht aus allem, was irgendwie nach Risiko klingt

Die Angst: Sie bringt jede Blase zum Platzen. Wenn immer mehr Menschen die Furcht packt, dass sie ihre Gewinne verlieren können, entweicht aus dem Boom die Luft. Die Panik entsteht, wenn aus der Angst einiger die Furcht aller wird. An die Stelle der Gier tritt die Hoffnungslosigkeit.

Doch die Experten werden sich hüten, die Lage schlechtzureden: Würden Josef Ackermann und Peer Steinbrück vor einem Bankencrash in Deutschland warnen, dann würde dies eine Panik an den Finanzmärkten auslösen und der Crash unweigerlich eintreten.

In der jetzigen Finanzkrise begann die Panik am 15. September, als die US-Investmentbank Lehman Brothers zusammenbrach. Seither flüchten die Anleger aus allem, was irgendwie nach Risiko klingt. Verzweifelt versuchen sie ihr Vermögen, das sie in den Jahren zuvor angehäuft haben, zu retten.

Am Ende eines normalen Booms steht meist ein großer Ausverkauf an den Börsen. Die Kurse fallen ins Bodenlose, ehe die Anleger wieder Vertrauen fassen. Der Boom der letzten Jahre war aber nicht normal. Er war aberwitzig. Deshalb ist plötzlich ein Retter gefragt, der nüchtern handelt, ohne jede Emotionen, und zudem Vertrauen genießt – der Staat. Nur er scheint in der Lage zu sein, den Absturz zu stoppen. Nur er gilt noch als Garant der Stabilität.

Doch der Preis, den der Staat für den Irrwitz der letzten Jahre zahlen muss, ist extrem hoch. Er muss Dutzende Milliarden – in den USA sogar Hunderte Milliarden – bereitstellen, um die Spekulanten und die Banken herauszukaufen, weil andernfalls eine Kettenreaktion wie in der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre droht und die Kosten für den Staat dann noch weitaus höher wären.

Niemand weiß, ob dies stimmt. Klar ist nur, dass der Staat sich damit in den nächsten Jahrzehnten selber fesselt. Das Geld fehlt da, wo es dringender gebraucht würde: bei der Bildung und im Sozialen.

Einfalt der Ökonomen

Natürlich ist die Frage berechtigt, warum niemand rechtzeitig vor diesem Absturz gewarnt hat. Den meisten Ökonomen war bewusst, dass die Amerikaner nicht ewig auf Pump leben können, doch fast alle haben damit gerechnet, dass sich die Probleme leichter lösen lassen.

Und wer dies bezweifelte, der fand kein Gehör: Wer außer einigen Experten interessierte sich schon für die Leistungsbilanz der USA, auch wenn hier der Quell allen Übels liegt, nämlich eine gefährliche Unwucht im Weltfinanzsystem? Und wer regte sich auf über fehlende Regeln für Hedgefonds, wenn alle nur über die Kürzung der Renten reden?

Und wer konnte oder wollte sich schon vorstellen, dass die Regierungen in Washington, London oder Berlin irgendwann einmal Banken retten würden? Die Panik der Spekulanten sorgt nun dafür, dass genau dies passiert. Sie zerstören jene Scheinwelt, die sie selber aufgebaut haben.

Wenn also die Lehren aus dieser Krise gezogen werden, sollte zweierlei klar sein: Der Homo oeconomicus taugt nicht mehr als Leitbild, die Ökonomen müssen ihre Modelle der komplexeren Wirklichkeit anpassen. Auch die Rolle des Staats muss neu definiert werden: Er kann es sich nicht leisten, die Banken immer wieder herauszukaufen, wenn sie sich verspekulieren. Er sollte daher künftig seinen Platz dort haben, wo Rüstow ihn schon platzieren wollte: oberhalb der Wirtschaft, da, wo er hingehört.

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