17.10.2008 19:17 Uhr Drucken | Versenden | Kontakt
US-Wahlen
Die schweigende Mehrheit plant den Aufstand
Latinos sind die Kraft, die in Amerikas Westen die Wahl für Obama entscheiden können – wenn sie überhaupt ihre Stimme abgeben.
Von Christian Wernicke
Die Lage ist ernst im Wilden Westen. So ernst wie nie. Davon können viele erzählen in Greeley, der braven Kleinstadt im Norden von Colorado. Hier, wo die “Stars and Stripes” an jeder zweiten Hausfront im Winde flattern und wo manchmal nachts ein Hauch von Rinderjauche sogar in die besseren Viertel vordringt und sich wie eine schmutzige Cowboydecke über die gepflegten Vorgärten legt, spürt jedermann, dass Aufruhr in der Luft liegt.
Da ist zum Beispiel Tom Selders, der leise Herr mit dem silbergrauen Haarschopf und den Lachfalten um die braunen Augen. Fast 62 Lebensjahre lang hat sich der Geschäftsmann mit der Rotariernadel am Revers selbst zu den Roten gezählt – also zu den Republikanern, die diesen sehr platten Landstrich Colorados wie gottgegeben regieren. Vier Jahre diente Selders sogar als Bürgermeister, und “Republikaner zu sein, das ist hier irgendwie selbstverständlich”, sagt er. Dann grinst er verschmitzt, nippt an seinem Kaffee und sagt: “Inzwischen habe ich mich bei den Demokraten eingeschrieben. Ich wähle Obama.”
Oder Sylvia Martinez, die junge Frau aus dem Osten von Greeley. Also von dort, wo nicht nur der Asphalt der Straße sehr viel rauer ist und wo von den Fassaden der kleinen Holzhäuser die weiße Farbe abblättert. Dort ist jenes Drittel der Bürger mit dem etwas dunkleren Teint zu Hause, das sich gerade jetzt im Herbst als Tagelöhner verdingt und draußen auf den Feldern die Zwiebeln und die Zuckerrüben erntet. Hier leben die Latinos, die sich allmorgendlich aufmachen, um in der riesigen Fleischfabrik am Stadtrand Rinderhälften zu zerlegen. Sylvia Martinez also, die Mutter zweier Kinder und nimmermüde Aktivistin im Viertel, ist sehr kämpferisch gestimmt dieser Tage. Denn sie glaubt, im Moment Großes zu vollbringen: “Diesmal können wir die Republikaner stoppen.”
Erst zu Beginn dieser Woche hat Martinez wieder kräftig jenen Optimismus getankt, der sie seit Monaten auf den Beinen hält. Und der ihr die Kraft gibt für die zwölf, manchmal 14 Stunden täglicher Ehrenarbeit für die Obama-Kampagne. Ein Vertreter der Landarbeiter-Gewerkschaft ist da in Joe’s Garage gekommen, in das Hinterhof-Quartier der Demokraten im Latino-Viertel, und hat den drei Dutzend Freiwilligen eingebläut, was sie sich eh längst als Slogan an die Wände geklebt haben: “Die Straße zur Präsidentschaft führt mitten durch Greeley.”
Zwischen Farbeimern und Werkbank hat der Funktionär noch einmal durchdekliniert, wieso sich ausgerechnet hier, im stockkonservativen Winkel von Amerikas Westen, das Rennen ums Weiße Haus entscheiden werde: “Damit Obama gewinnt, müssen wir Colorado erobern. Und um Colorado zu kriegen, müssen wir hier im Landkreis zulegen”, argumentiert der Besucher aus Denver. Da haben alle beifällig genickt, und Sylvia Martinez huscht hinten in der Ecke auf ihrem Klappstuhl ein fröhliches Lächeln übers Gesicht, als der Redner endlich seinen Dreisatz vollendet: “Um aber hier zu siegen, müssen wir die Latinos zur Wahl bewegen.”
Nie zuvor fühlten sich Amerikas Hispanics so heftig umworben. Und nirgendwo sind sie so mächtig wie in Amerikas Westen. Zwar neigen in Bundesstaaten wie New Mexiko, Nevada und Colorado, die 2004 noch allesamt an die Republikaner fielen, inzwischen auch viele weiße Wähler dazu, diesmal demokratisch zu votieren. Doch trotz der Wut über George W. Bush, trotz all des Frusts über den Krieg im Irak und über die Wirtschaftskrise daheim bleibt Obamas Vorsprung knapp. In Colorado zum Beispiel pendelt der Punktevorteil des schwarzen Senators unter weißen Bürgern innerhalb der Fehlermarge der meisten Umfragen. Nur bei den Latinos scheint die Sache klar: Zwei von drei jener Coloradoans, deren Eltern oder Ahnen einst aus Mexiko und Mittelamerika gen Norden zogen, bekennen klare Sympathien für Obama.
Stille Revolution per Briefwahl
Allein, niemand im Staate weiß, wie viele Stimmen diese Stimmung wert sein wird am 4. November. Zu viele Latinos haben sich nie eintragen lassen ins Wählerverzeichnis, und viel zu wenige der registrierten Hispanics scherten sich bisher darum, am Wahltag ihr Kreuzchen zu machen. “Genau das wird diesmal anders”, glaubt Sylvia Martinez, “diesmal werden wir unsere Stimme erheben.” Und daran arbeitet sie, überall. So wie am Mittwoch, da sie bei sich im Wohnzimmer die halbe Familie zusammengetrommelt hat. Die junge Schwester, die liebste Cousine, der schweigsame Schwager und sogar ihre Mutter hocken am Abend auf dem braunen Plüschsofa vor dem Fernseher und schauen zu, wie sich Barack Obama und John McCain im TV-Duell balgen.
Carmen, die angehende Schwägerin, gibt zu, sie habe früher so manche Wahl verschwitzt: “Erst Sylvia hat mich auf Trab gebracht.” Verlegen knabbert Carmen an ein paar Kartoffel-Chips. Und erzählt dann stolz, wie sie selbst inzwischen für Obama wirbt: “Neulich habe ich meine beiden Brüder dazu getrieben, sich endlich einzuschreiben für die Wahl.” Das ist der erste Schritt. Der zweite folgt sogleich: Die TV-Debatte ist kaum vorbei, da kramt Sylvia Martinez die Formulare für den Antrag auf Briefwahl aus dem Holztisch hervor. Ihre Mutter ist als erste dran. Name, Vorname, Adresse, Unterschrift – Juanita Martinez wirkt erleichtert, als sie den Papierkram hinter sich hat und die Tochter ihr einen Kuss auf die Wange gibt. Nein, “nie im Leben” würde sie für die Republikaner stimmen: “Doch ja, zu oft habe ich früher gar nicht gewählt.”
Exakt 217000 neue Wähler hat der Staat Colorado in diesem Jahr registriert. Allein in Weld County, dem riesigen Landkreis von Greeley, waren es 20000. Und fast die Hälfte aller Wahlberechtigten hat inzwischen einen Antrag auf Briefwahl gestellt. Beides sind Indizien dafür, dass die Obama-Kampagne vorankommt bei ihrem Versuch, Colorados bislang schweigende Minderheit zu mobilisieren. Wer wie die meisten Latinos im Akkord schuftet und auf seinen Stundenlohn achten muss, der hat keine Zeit, sich am ersten Dienstag im November im Gemeindezentrum in die Schlange zu stellen. Die Wahl per Post, so sieht es auch Sylvia Martinez, ist deshalb “der beste Weg, dass unsere stille Revolution gelingt”. Behält sie recht, die Underdogs von Greeley würden zu den Königsmachern von Washington.
Tom Selders, der frühere Bürgermeister, mag das noch immer nicht glauben. Der ergraute Herr ist ein gebranntes Kind: “Als es das letzte Mal darauf ankam, sind die Latinos auch zu Hause geblieben.” Genau ein Jahr ist es her, dass die Republikaner ihn aus dem Rathaus verjagt haben. Selders hatte zuvor “zu viel Sympathie für die Braunen” gezeigt. So jedenfalls formuliert es ein Zeitzeuge, der nur anonym jenes Stückchen Stadtgeschichte referiert, dass Greeley 2006 im ganzen Land berühmt gemacht hat: Damals war die Einwanderpolizei martialisch vor die Tore der Fleischfabrik gerückt, hatte 265 illegale Arbeiter verhaftet, vernommen und schließlich deportiert. Auf Einladung kirchlicher Solidaritätsgruppen reiste Selders Monate später nach Washington, um als Kronzeuge gegen das unmenschliche Vorgehen der Bundesbehörden aufzutreten. Da brach daheim unter seinen Parteifreunden blankes Entsetzen aus, und dieser Sturm hat an Selders Stelle nun einen bulligen Ex-Polizisten ins Rathaus befördert, den weit weniger Skrupel plagen.
Selders flüstert, wenn er sich erinnert “an diese schlimme Zeit”. Und wenn er erzählt, wie auch er als typisch weißer Jugendlicher früher “nie wirklich etwas zu tun hatte mit ?den anderen’. Der Osten von Greeley war für mich eine fremde Welt.” Damals verkündeten noch Schilder in Schaufenstern, dass “Hunde und Mexikaner unerwünscht” seien. Und ins öffentliche Schwimmbad durften sie nur, wenn tagsdrauf der Pool gereinigt wurde.
Sicher, seither hat sich viel geändert. “Selbst viele Latinos haben nicht begriffen, wie stark wir längst sind”, sagt Sylvia Martinez und lacht. “Aber auch das wird sich am 4. November ändern.” Sie räumt ein, dass ihre politischen Freunde und ihre Viertel vor einem Jahr Tom Selders böse im Stich gelassen haben. Aber sie ist sich “absolut sicher”, dass es dieses Mal anders ausgeht: “Viva Obama!” Woher sie diese Zuversicht nimmt? “Das weiß ich manchmal auch nicht. Aber oft bleibt uns eben nichts anderes als diese Zuversicht.”
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