The Converts

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Die Bekehrten

Von Martin Klingst | © DIE ZEIT, 30.10.2008 Nr. 45

Seit 44 Jahren wählt Virginia republikanisch. Reise in einen Staat, der jetzt die Seiten wechselt

Hampton Roads, Virginia – Wenn der Wahlforscher und Politologe Larry Sabato auf seine bunten Schautafeln blickt, dann kann er es kaum fassen: Der Südstaat, der seit 44 Jahren keinen demokratischen Präsidentschaftskandidaten gewählt hat, kippt. Noch vor zwei Monaten strahlte Virginia fast überall im leuchtenden Rot der Republikaner. Jetzt färbt sich die Landkarte dort, wo besonders viele Wähler wohnen, demokratenblau: dunkel im nördlichen Speckgürtel rund um die Hauptstadt Washington, vorsichtig hell im Südosten, im Wahlbezirk Hampton Roads rund um den größten Marinestützpunkt der Welt.

In Virginia, wo Sabato lehrt, siegte vor vier Jahren noch George W. Bush mit neun Prozent Vorsprung, nun liegt nach den Umfragen Barack Obama vorn. Wird der Staat, der sich noch in den siebziger Jahren gegen gemeinsamen Schulunterricht für schwarze und weiße Kinder wehrte, einen Schwarzen zum Präsidenten wählen? »Wenn Hampton Roads für Obama stimmt, dann tut dies auch Virginia – und wenn sich Virginia das traut, dann tut es die große Mehrheit Amerikas«, sagt Sabato. »Der Weg ins Weiße Haus führt mitten durch Hampton Roads!«, rief kürzlich Sarah Palin. Sie und John McCain fliegen jetzt mehrmals in der Woche ein, um zu retten, was noch zu retten ist.

Was ist geschehen, was hat die Verhältnisse nur so verkehrt?

Anwalt David Flynn und Häusermakler Bill Gibbs leben beide in Hampton Roads. Sie sind weiß, haben mit Immobiliengeschäften gutes Geld verdient und leiden nun unter dem Super-GAU an der Wall Street. Solange sie nicht über Politik reden, sind der schmächtige Flynn und der korpulente Gibbs die dicksten Freunde. Beide bezeichnen sich als »typische« Bewohner Virginias.

David gehört zu den sogenannten Neueinwohnern. Er stammt ursprünglich aus Massachusetts und ist wie viele Amerikaner wegen der Sonne, der Strände und des Wirtschaftsaufschwungs hierher gezogen. Die Regierungsbehörden im nahen Washington, die Hightechindustrie und mehr als ein Dutzend Militäreinrichtungen haben Virginia einen Boom beschert, seit 2000 ist die Bevölkerung um neun Prozent gewachsen. Doch nun hat die Immobilienkrise David dazu gezwungen, zehn seiner 16 Kanzleiangestellten zu entlassen, sein Jahresgehalt von rund 250000 Dollar schrumpfte um zwei Drittel. David Flynn, der sich zur politischen Mitte und zum Lager der typischen Wechselwähler zählt, hat sich entschieden: Er wird Barack Obama seine Stimme geben, weil er den Demokraten am ehesten zutraut, der Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen. »In der Not hat die Regierung die Pflicht, den Markt zu retten«, sagt er.

Häusermakler Bill Gibbs hingegen gehört zum Urgestein Virginias. Er stammt von Captain John Smith ab, dem legendären englischen Seeoffizier und Frauenheld, der 1607 in Virginia die erste offizielle Siedlung gründete und angeblich eine Affäre mit der Häuptlingstochter Pocahontas unterhielt. Bills Geschäfte laufen etwas besser als die seines Freundes. »Das kommt, weil du an solide Armeeoffiziere verkaufst«, frotzelt David. Bill hat sich ebenfalls entschieden: Er wird John McCain wählen, weil er wie sein Vater schon immer für die Republikaner gestimmt hat. Es gefällt ihm, wenn McCain und Palin staatliche Eingriffe in die Vermögensverteilungen als »Sozialismus« verdammen.

Bill schweigt, wenn sein Kumpel schimpft, Bush habe alles versaut

Bei einem Glas Bier gesteht der 49-jährige Bill Gibbs allerdings ein, dass nicht viel fehlt, um auch aus ihm einen Wechselwähler zu machen. Seine Mutter ist bereits aus der Familientradition ausgeschert und votiert des Öfteren für die Demokraten. Wenn Freund David schimpft, dass George W. Bush »alles versaut« habe, der Irakkrieg eine riesige Dummheit und Amerika »auf den Hund gekommen« sei, dann nickt auch Bill stumm. Neulich, auf einer Veranstaltung mit McCain, hat er sich zum ersten Mal gefragt: »Wer hat sich mehr verändert, die Republikaner oder ich?« Weit über zehntausend Leute waren gekommen, aber nur vier oder fünf waren schwarz. »Weiß, weiß, so weit ich sehen konnte«, sagt Bill. Das gefiel ihm nicht, »das ist nicht Amerika«. Doch am kommenden Dienstag will er den Republikanern noch einmal die Treue halten. Wie zum Trotz hat er sich zum Kneipenbummel mit David ein knallrotes TShirt angezogen.

Die alte Südstaatenbastion wankt, Obama und die Demokraten liegen laut Umfragen auch in North Carolina und in Florida knapp vorn, in Georgia nur leicht zurück. Verkehrte Welt: Einst wählte der Süden ausnahmslos die Demokraten, denn die waren für Sklavenhaltung und, als die nicht mehr zu retten war, für Rassentrennung. Republikanische Sklavereigegner brauchten hier erst gar nicht anzutreten. Doch unter dem Einfluss nördlicher Großstädte wurden die Demokraten immer linker – und die Republikaner im Gegenzug immer rechter. In den sechziger Jahren gelang es Richard Nixon, den Demokraten den Süden zu entreißen. Nun ändern sich die Vorzeichen wieder, vor allem in Virginia. Zweimal hintereinander wurden hier moderate Demokraten zu Gouverneuren gewählt, und zwei moderate Demokraten werden den Staat nach dem 4. November im US-Senat vertreten.

Kaum einer hat den Gezeitenwechsel aus größerer Nähe beobachtet als Paul Fraim, der Bürgermeister von Norfolk. Die Stadt hat eine Viertelmillion Einwohner und eine 400-jährige Geschichte, sie liegt in Hampton Roads und wird seit vierzehn Jahren von Fraim regiert. Von seinem rundum verglasten Amtszimmer im zehnten Stockwerk der City Hall aus hat der weiße Anwalt sein Reich fest im Blick. Unten dümpeln graue Kriegsschiffe im weltgrößten Marinehafen und schleppen Lotsenboote voll beladene Containerschiffe zu ihren Liegeplätzen.

»Es war nicht schwer für einen Demokraten, Bürgermeister von Norfolk zu werden«, sagt Fraim. Jeder zweite Einwohner ist schwarz, die Stadt beherbergt drei Universitäten – und eben den Hafen mit vielen Arbeitern. Aber dass sich der Bezirk Hampton Roads mit Hunderttausenden Soldaten und Armeeveteranen, mit in der Wolle gefärbten Südstaatlern und konservativen Evangelikalen jemals auch nur leicht hellblau färben könnte, das hätte er bei seinem Amtsantritt nicht für möglich gehalten. Fraim erinnert sich noch gut an den Aufruhr, als Präsidentschaftskandidat John McCain im Vorwahlkampf 2000 zwei reaktionäre religiöse Führer, die in Virginia eigene Universitäten betreiben, »Agenten der Intoleranz« nannte. Er hatte daraufhin nicht mehr die Spur einer Chance.

Seit Mitte der neunziger Jahre hatte Fraim die größten Veränderungen kommen sehen. Zuerst erwachten die Schwarzen aus ihrer Lethargie und begriffen, dass sie Macht haben. Dann wanderten über die Jahre massenhaft weiße Leute wie Anwalt David Lynn aus dem liberalen Norden ein und mischten Virginia auf, ihnen folgten Lateinamerikaner und Asiaten. Schließlich begehrten die Frauen auf. Die Mütter der Bill Gibbs, sagt Meinungsforscher Sabato, hätten ein feineres Gespür als ihre harten Südstaatenmänner für die Notwendigkeit sozialer und kultureller Veränderung.

Neulich war Michelle Obama in Norfolk und sprach mit Soldatenfrauen über ihre Alltagssorgen, wenn die Männer in den Krieg ziehen müssen und daheim das Geld nicht reicht. Sie versprach Hilfe und erntete Riesenbeifall. Ihre Gespräche mit den Soldatenfrauen sind inzwischen ein Markenzeichen der Obama-Kampagne. Auch deshalb, sagt Sabato, habe in den Umfragen von Hampton Roads Barack Obama zum Kriegshelden John McCain aufgeschlossen. »Veteranen und Soldaten wählen republikanisch, aber dank ihrer Frauen nicht mehr als ein einheitlicher Block.«

In einer Kneipe in Virginia Beach schütteln sich Wechselwähler David Flynn und Beinahewechselwähler Bill Gibbs vor Lachen, als ihnen die Geschichte eines republikanischen Wahlhelfers erzählt wird, dem neulich an einer Haustür, bevor er überhaupt Luft holen konnte, aus der Küche zugerufen wurde: »Hey, sag dem Kerl, dass wir diesmal den Nigger wählen!« Der Südstaat Virginia hat schon mehrmals Geschichte geschrieben: Er schuf die erste Siedlung der Neuen Welt und stellte mit George Washington den ersten Präsidenten. Er wählte vor neun Jahren den ersten schwarzen Gouverneur Amerikas. Er könnte am nächsten Dienstag dem ersten schwarzen Präsidenten die entscheidenden Stimmen verleihen.

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