Europe Sleeps Through The New World Order

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Europa verschläft die neue Weltordnung

Von Joschka Fischer | © ZEIT ONLINE 17.11.2008 – 10:16 Uhr

Der G20-Gipfel in Washington markiert die neue Machtverteilung im 21. Jahrhundert. Die USA sind darauf besser vorbereitet als die Europäer

Den 15. November 2008 wird man sich merken müssen, denn an diesem Tag wurde Geschichte gemacht. In Washington traf sich zum ersten Mal die Gruppe der zwanzig wichtigsten Staaten der Welt (G 20), um eine Antwort auf die globale Wirtschafts- und Finanzkrise zu finden. Auch wenn dieses erste Treffen nur Absichtserklärungen zustande gebracht hat, markiert es dennoch eine historische Zäsur.

In der schwersten weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts sind die einst dominierenden westlichen Industriestaaten und Russland nicht mehr in der Lage, eine wirksame Antwort auf diese Krise zu geben. Stattdessen ruht nun vor allem auf den neuen Wirtschaftsmächten – China an erster Stelle – die Hoffnung, eine Begrenzung oder gar einen Ausweg aus der Krise zu ermöglichen.

Damit aber hat die Gruppe der Acht (G 8) endgültig ihre Bedeutung verloren. Was sich nun abzeichnet, ist die neue Weltordnung für das 21. Jahrhundert. Wenn die aktuelle globale Krise zu Ende sein wird, wird nichts mehr so sein, wie es dereinst war. Der Westen – Amerika und Europa – befinden sich in einem relativen Abstieg, während die aufsteigenden Mächte Asiens und Lateinamerikas zu den Gewinnern gehören werden.

Die USA haben auf den Niedergang ihrer globalen Macht mit der Wahl Barack Obamas – des ersten afroamerikanischen Präsidenten des Landes – auf beeindruckende Weise reagiert. Mitten in einer der schwersten Krisen des Landes haben die USA sich selbst und der ganzen Welt ihre Erneuerungsfähigkeit bewiesen. Diese Wahl wird – bereits heute absehbar – drei langfristige Konsequenzen haben:

Erstens wird die Wahl eines schwarzen Präsidenten die tragische Geschichte der Sklaverei und des amerikanischen Bürgerkrieges endgültig abschließen. Fortan wird die Hautfarbe, die Form der Augen oder die Frage des Geschlechts bei einer Kandidatur für hohe und höchste Ämter keine wirkliche Rolle mehr spielen. Damit werden die USA den Veränderungen in ihrem Innern gerecht, wo die nicht-weißen Bevölkerungsgruppen am stärksten wachsen.

Zweitens wird diese neue Orientierung der Amerikaner auf mittlere Sicht auch zu einer Neuorientierung der US-Außenpolitik führen und die bisher selbstverständliche transatlantisch-europäische Ausrichtung der USA in den Hintergrund rücken lasse.

Drittens wird dieser innere Kulturwandel Amerikas durch die globale Machtverlagerung von West nach Ost noch weiter verstärkt werden.

Die Mächte des nordöstlichen Pazifik – China, Japan und Südkorea – sind bereits heute die mit Abstand größten Gläubiger der USA, ihre Bedeutung wird durch die Folgen der Finanzkrise noch weiter wachsen. In diesem Raum liegen auf absehbare Zeit die größten Wachstumschancen der Weltwirtschaft, und Amerika wird sich aus wirtschaftlichen wie machtpolitischen Gründen nun noch stärker dem pazifischen Raum zuwenden und seine atlantische Orientierung herabstufen müssen.

Für Europa ist all dies keine gute Botschaft, denn die Europäer werden am Ende dieser globalen Krise einfach unwichtiger geworden sein. Leider sehen die Europäer ihrem machtpolitischen Niedergang nicht nur tatenlos zu, sie verstärken diesen Prozess sogar noch. Amerika hat mit der Wahl Obamas auf die Zukunft einer globalen, multipolaren Welt gesetzt, Europa hingegen renationalisiert sich in dieser Krise und setzt damit auf die Vergangenheit!

Die europäische Verfassung ist gescheitert, der Reformvertrag von Lissabon hängt im Nichts des irischen Neins und eine verstärkte europäische Wirtschaftsregierung wird durch den deutsch-französischen Gegensatz blockiert. Die Reaktion der EU-Mitgliedstaaten auf diese anhaltende Selbstblockade fällt eindeutig aus: Anstatt jetzt einen energischen neuen Anlauf zu einer weiteren politischen und wirtschaftlichen Integration zu unternehmen, handeln die europäischen Hauptstädte im Wesentlichen national und versuchen so, das Vakuum zu füllen.

Gewiss, man koordiniert sich zwischen den Mitgliedstaaten, bisweilen sogar erfolgreich, aber ohne starke europäische Institutionen werden solche singulären Erfolge nicht von Dauer sein.

Es besteht heute die große Gefahr, dass Europa eine historische Weichenstellung in Richtung einer multipolaren Welt verschläft. Spätestens mit der Konferenz von Washington müsste es doch allen Europäern bewusst geworden sein – auch den Euroskeptikern auf den Inseln -, dass diese Weichenstellung jetzt im Augenblick vorgenommen wird! Wenn die Europäer das 19. Jahrhundert in ihren Köpfen nicht überwinden können, wird die globale Karawane auf jeden Fall auch ohne die Europäer weiter ins 21. Jahrhundert ziehen.

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