Flip-flops in a Historic Moment

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Wendehälse im historischen Moment

Von Jordan Mejias, New York

15. November 2008

Eigentlich begann das alles schon in der Wahlnacht. Statt wie seine Anhänger Tränen zu vergießen, trat John McCain ins Scheinwerferlicht der Nation, um ihr tapfer zu verkünden, sie habe eine historische Wahl miterlebt. Die Buhrufe, die aufkamen, als er seinen siegreichen Gegner respektvoll beim Namen nannte, erstickte er mit einem strengen Blick. Seitdem üben auch seine Parteifreunde die hochvirtuose Hundertachtziggradvolte. Gut, es gibt Ausnahmen. Der ultrarechte Radiokrakeeler Rush Limbaugh denkt nicht daran, seine täglichen Giftrationen zu drosseln. Und Bill O’Reilly, Limbaughs Gesinnungsgenosse bei Fox News, sichert seinen Zuschauern zu: „Der Typ ist immer noch undurchschaubar, weshalb wir ihn intensiv beobachten werden.“

Keine Überraschungen liefert auch Hollywood. Gerade erst hat Will Smith, laut „Forbes“ der zurzeit bestbezahlte Leinwandstar, bei Oprah, Obamas berühmtestem Fan unter den Berühmtheiten des Showgeschäfts, vorbeigeschaut und halb beseligt, halb verzweifelt ausgerufen: „Oprah! Ich bin ein Action-Held, ich kann doch nicht in deiner Show zu heulen anfangen!“ Worauf er zugab, genau das in der Wahlnacht getan zu haben, und sich noch einmal schauspieltechnisch einwandfrei in tränengeschüttelter Verzückung auf dem Fernsehstudioboden wand. Ob Arnold Schwarzenegger die Darbietung des Kollegen am Bildschirm verfolgt hat? Der republikanische Gouverneur Kaliforniens, der schon aus Parteiräson für McCain Stimmung machen musste, hat erleichtert bekannt, seine Frau, die dem urdemokratischen Kennedy-Clan entstammende Maria Shriver, gewähre ihm endlich wieder Einlass ins eheliche Schlafgemach.

Palin ist kaum wiederzuerkennen

Was allerdings nun Obamas eingefleischte politische Gegner über ihn, den von ihnen herzhaft unerwünschten Sieger, von sich geben, übersteigt doch das Maß der gängigen, im Kielwasser des Wahlkampfs aufsprudelnden Höflichkeit. Außenministerin Condoleezza Rice war da noch verhältnismäßig zurückhaltend. Sie gewährte dem werbungsfreien Informationssender C-Span ein Interview, in dem sie ihren Chef als „dissidenten Präsidenten“ verklärte, aber auch seinen Nachfolger pries, weil ab sofort die Hautfarbe kein Faktor mehr im Leben Amerikas und für die Identität der Nation sei. Möge sie recht behalten.

Aber kaum mehr wiederzukennen ist etwa die unvergleichliche Sarah Palin, die einst Obama bezichtigte, mit Terroristen unter einer Decke zu stecken, und jetzt angesichts des auch von ihr nicht zu übersehenden historischen Augenblicks ausrief: „Gott segne Barack Obama und seine wunderbare Familie!“ Eine geradezu biblische Verwandlung ist auch bei Michele Bachmann, einer Abgeordneten aus Minnesota, zu beobachten. Nicht länger bezichtigt sie Obama der antiamerikanischen Umtriebe, zeigt sich vielmehr äußerst dankbar darüber, dass diesmal ein Afroamerikaner gewonnen hat. Ein sagenhaftes Signal sende Amerika damit aus. Nicht zu vergessen Joseph Lieberman! Der abtrünnige Demokrat, der McCain unterstützte und Obama vorwarf, im Gegensatz zu McCain nicht immer zuerst an sein Land zu denken, freut sich neuerdings über dessen „historischen und eindrucksvollen Sieg“. Obama sei ein echter Patriot und liebe sein Land. Ja, sogar George W. Bush gibt vor, der bevorstehenden Wachablösung nur Entzücken abzugewinnen. „Einen ergreifenden Anblick“ stellt er seinen Landsleuten für die Amtseinführung in Aussicht.

Höchst außergewöhnliche Lage

Diese könnten darob so verwirrt sein, dass sie sich keinen anderen Rat wüssten, als die unentbehrlichen Presidential Historians, denen auch die seltsamsten Entwicklungen im Umkreis des Präsidentenamts nicht die (mit geschichtlichen Parallelen gespickte) Sprache verschlagen, um Auskunft zu bitten. So darf die nie um eine Erklärung verlegene Doris Kearns Goodwin in den Spalten der „New York Times“ auftauchen und bestätigen, dass die Lage höchst außergewöhnlich sei. Die Wendehälse, sagt sie, wollten nicht auf der falschen Seite der Geschichte anzutreffen sein, nachdem sie erkannt hätten, welche große historische Bedeutung das Land und die Welt dem Wahlerfolg Obamas beimäßen.

Diese Bedeutung zeigt sich nicht zuletzt im florierenden Marketing der Wahl und ihrer Folgen. Es ist einer der wenigen Lichtblicke im rezessionsgefährdeten Amerika. Nicht nur T-Shirts und Kaffeebecher, die den Wahlausgang dokumentieren, sollen die Renner der Saison bleiben. Eine Flut von Büchern über Obama und seinen beispiellosen Triumph kündigt sich an, verfasst von Journalisten, die ihn auf seiner zweijährigen Odyssee ins Weiße Haus begleitet haben, und natürlich müht sich auch das Fernsehen um eine möglichst rasche Übersetzung der Ereignisse in süffige Dokudramen. Die Vermarktung der Wahl, so heißt es im Fachblatt „Publishers Weekly“, sei das größte Ding seit Harry Potter.

Niemand will indes voraussagen, wie lange das so bleiben wird. Ein Fehltritt des neuen Präsidenten, und schon könnte die Euphorie verfliegen, könnten die neuen Freunde sich über Nacht zurückverwandeln in die alten Feinde. Solange die Umfragen Obama begünstigen, muss Harry Potter aber mit harter Konkurrenz rechnen.

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