Wir Abhängigen
Von Ian Buruma | © DIE ZEIT, 05.03.2009 Nr. 11
Unser Verhältnis zu den USA ist neurotisch. Wie Halbwüchsige starren wir auf die väterliche Supermacht. Höchste Zeit für die Europäer, erwachsen zu werden und sich als gleichberechtigte Partner zu betrachten
Die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten der Vereinigten Staaten hat eine Idee wiederbelebt, die die meisten Menschen im Laufe der vergangenen acht Jahre schon begraben hatten: die Idee, Amerika sei ein Ort der Hoffnung, an dem Dinge möglich sind, von denen die Menschen in anderen Ländern nur träumen können. Bis heute wäre es in Europa nur schwer vorstellbar, dass hier ein junger Mann mit einem schwarzen Vater ins höchste Amt des Staates gewählt würde. Doch der amerikanische Präsident ist mehr als nur ein Politiker. Alle vier Jahre findet in Amerika die Salbung eines neuen Königs statt, nun war es die eines halb afrikanischen Königs.
Natürlich wurde dieses Ereignis in Afrika und unter den schwarzen Einwanderern in Europa enthusiastisch gefeiert, nicht weniger allerdings von vielen weißen Europäern, die den amerikanischen Traum eigentlich schon abgeschrieben hatten. Manche beobachteten die diversen Katastrophen der US-Außen- und Wirtschaftspolitik mit Schadenfreude, andere wiederum mit Bedauern, gar mit ängstlicher Sorge. Was sollte ohne die Macht und die moralische Autorität der größten westlichen Demokratie aus der angeschlagenen westlichen Welt werden? Und würden diejenigen, die sich über die Missgeschicke des Giganten freuen, wirklich lieber von anderen Großmächten herumkommandiert, zum Beispiel von China oder Russland?
Ich glaube nicht. Aus diesem Grund wurde Barack Obama auch mit so großer Erleichterung empfangen, ja mit mehr als Erleichterung, mit Verherrlichung. Als sei Obama nicht nur ein Politiker, nicht nur ein amerikanischer Monarch, sondern eine Art Erlöser.
Das ist zugleich beunruhigend. Zu viele Erwartungen lasten auf den jungen Schultern des neu gewählten Präsidenten. Es offenbart auch den neurotischen Charakter unserer Abhängigkeit von der Großmacht Amerika. Was diejenigen, die zu viel Hoffnung auf Amerika setzen, mit den Feinden Amerikas verbindet, ist ein Glaube an die amerikanische Allmacht. Amerikas Feinde sehen hinter jedem weltpolitischen Ereignis gern die dunklen Machenschaften der CIA. Für sie sind wir alle nur Figuren, die von sinistren Großmeistern in Arlington, Virginia, auf einem gigantischen Schachbrett herumgeschoben werden.
Doch die Wirklichkeit ist viel banaler. Die Politik der USA wird in großem Maße von widerstreitenden innenpolitischen Interessen geprägt, von Berufslobbyisten und Provinzpolitikern gestaltet und von schwerfälligen Bürokraten, die zum Teil nur recht vage Vorstellungen von der Außenwelt haben, ausgeführt. Neurotisch aber ist Europas Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten aus anderen Gründen. Nach 1945 träumten die Europäer ihren eigenen Traum von einer besseren Welt, in der es keine Machtpolitik, dafür aber uneingeschränkte Diplomatie und vernünftige Lösungen für unvernünftige Konflikte gäbe. Und dieser Traum trug auf europäischem Boden durchaus Früchte: keine weiteren Kriege in Westeuropa, die Aufnahme zahlreicher neuer Staaten in die EU und so weiter.
Ein wirklich schöner Traum, doch konnten wir uns diesen Traum nur leisten, solange die amerikanische Militärmacht für unsere, für die europäische Sicherheit garantierte. Wir träumten süß von der Zukunft unter Uncle Sams atomarem Schutzschild. Und als die gewaltsamen Konflikte vor unserer Haustür – etwa in Serbien – unseren Nachkriegsschlaf störten, warteten wir Europäer ab, bis die Amerikaner kamen, um unsere Probleme mit ihrer überwältigenden Militärmacht zu lösen.
Was an diesem Verhältnis neurotisch ist? Weil wir wie Halbwüchsige auf eine väterliche Macht angewiesen sind, die uns doch zugleich abstößt. Dieser Widerwille wurde unter der Regierung von George W. Bush so stark, dass einige Europäer bereits über alternative Lösungen nachzudenken begannen, die eine größere Unabhängigkeit ihres Kontinents erfordern würden. Die Wahl Obamas nun droht die lieb gewonnenen Erinnerungen an die Berliner Luftbrücke und an John F. Kennedy aufleben zu lassen – und damit alle wieder sanft in den Schlaf zurückzuwiegen.
Diese Vorstellung ist nicht etwa deshalb gefährlich, weil Europa aus dem Bündnis mit den USA ausscheren sollte. Das meine ich nicht. An eine grundsätzliche Spaltung der westlichen Welt habe ich selbst in den Jahren der Bush-Regierung nie geglaubt. Trotz vieler sozialer und kultureller Unterschiede verbinden Europa und Amerika doch immer noch eine gemeinsame Zivilisation und geteilte politische Ideale.
Nein, ich halte die Vorstellung, wir könnten in die alte Zeit zurückfinden, deshalb für gefährlich, weil die Ära von George Marshall, General Lucius Clay und Kennedys Camelot ein für alle Mal abgelaufen ist. Selbst wenn man die Vereinigten Staaten für eine Kraft des Guten hält, muss man sehen, dass das US-Militär nicht in der Lage sein wird, alle drohenden Gefahren im Alleingang aus der Welt zu schaffen. Es war einfach, Slobodan Milošević mit Präzisionsbomben und zielgenauen Raketen loszuwerden. Schwerer ist es, ein globales Netzwerk lose assoziierter, oftmals unabhängig agierender Terroristen zu bekämpfen. Sollten verbrecherische Regime, Dritte-Welt-Diktatoren oder revolutionäre Dschihadis in den Besitz von Atomwaffen gelangen, wird weder die europäische Diplomatie noch die US-Militärmacht für unsere Sicherheit garantieren können.
Sowohl Europa als auch die Vereinigten Staaten werden, erst recht angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise, ihr Gewicht in die Waagschale werfen müssen, doch als gleichberechtigte Partner. Es war Barack Obama, der bei seiner Rede im Berliner Tiergarten im Juli vergangenen Jahres auf diesen Punkt hinwies. Zehntausende bejubelten ihn wie einen Rockstar oder wie einen Messias (was ganz ähnlich aussehen kann). Der einzige Teil seiner Rede, der die Menge nicht sofort in Ekstase versetzte, war seine Aufforderung, die Europäer möchten doch ernsthafter über gemeinsame Bedrohungen in Europa sowie außerhalb Europas nachdenken. Als er sagte, das afghanische Volk brauche »unsere Truppen und eure Truppen; unsere Hilfe und eure Hilfe im Kampf gegen die Taliban und al-Qaida«, ging ein beklommenes Raunen durch die Fangemeinde.
Man kann sicher darüber streiten, ob es sinnvoll ist, mehr Truppen nach Afghanistan zu schicken. Doch hat Obama zu Recht bemerkt, dass die USA nicht allein dastehen sollten noch können (Bush hat es versucht, und es war ein Desaster). Obamas Wahl schafft günstige Voraussetzungen für ein engagierteres Europa, das weniger predigt und mehr zur Lösung der globalen Krisen und Konflikte beiträgt. Sich aus Ressentiment oder Verärgerung über eine unpopuläre Regierung völlig von den Vereinigten Staaten loszusagen würde die Gefahren nur vergrößern. Ein erster Schritt zu ihrer Eindämmung hingegen wäre es, in einem freundschaftlichen Bündnis mit einem beliebten Anführer unabhängiger aufzutreten.
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