Free The Torturers?

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Die Folterer laufen lassen?

Von Heinrich Wefing | © DIE ZEIT, 23.04.2009 Nr. 18

Die Folter-Memos haben Barack Obama in ein Dilemma gestürzt: Eigentlich müsste er gegen die Administration von George W. Bush vorgehen, würde damit aber Amerika einer Zerreißprobe aussetzen

Wer die Folter-Memoranden aus dem US-Justizministerium zu lesen beginnt, deren Veröffentlichung Barack Obama letzte Woche angeordnet hat, begibt sich in eine Welt bürokratischer Perversion. In vier Gutachten aus den Jahren 2002 bis 2005, alle mit dem Vermerk »Top Secret« versehen, beschreiben führende Juristen der Regierung Bush, wie Gefangene systematisch misshandelt werden können, ohne dass sich ihre Peiniger strafbar machen. Mit vielen Fußnoten und Quellenangaben erörtern sie zwölf Methoden der – nach ihrer Ansicht – legalen Quälerei und regeln deren Anwendung, inklusive praktischer Hinweise: Welche Temperatur darf das eisige Wasser nicht unterschreiten, mit dem die Gefangenen abgespritzt werden? Fünf Grad. Wie viele Tage hintereinander kann ein Häftling des Schlafes beraubt werden? Maximal elf. Wie lang darf das simulierte Ertränken, das »waterboarding«, dauern, und wie viel Wasser darf dem Opfer dabei in Mund und Nase geschüttet werden? Wie häufig müssen Ärzte den Zustand eines Gepeinigten untersuchen, und wie soll ein Verdächtiger geschlagen werden? Mit der flachen Hand, die Finger leicht gespreizt; Ringe und anderer Schmuck sind vor dem Schlag von der Hand zu entfernen.

»Wenn du nicht Menschenrechte verletzt, machst du deinen Job nicht«

Die nüchtern formulierten Anleitungen erlauben, kurz gesagt, jede Behandlung, die keine bleibenden Schäden hinterlässt, keine Knochen bricht und keinen Verdächtigen umbringt. Alles andere qualifizieren die Rechtsgutachten als effektive Informationsgewinnung. Es ist eine albtraumhafte Verzerrung dessen, was Juristen (und Mediziner) in einem Rechtsstaat tun dürfen.

Manche Verhörmethoden, die die Memos beschreiben, waren aus anderen Quellen bereits bekannt, aus den Berichten freigelassener Häftlinge, aus Recherchen von Journalisten. Und doch stellt die Veröffentlichung der Papiere einen Einschnitt dar. Sie belegen zweifelsfrei, was bislang nur ein Gerücht war: dass der Schlafentzug, die Schläge in den Unterleib, die Verweigerung fester Nahrung, das stundenlange Stehen in eisigen Räumen keine Exzesse unterer Chargen waren, keine sadistischen Spielchen brutaler Wärter wie vielleicht noch im Gefängnis von Abu Ghraib. Es waren kühl geplante Akte der Unmenschlichkeit, haarscharf unterhalb der Foltergrenze. Jedenfalls der Foltergrenze, wie sie von Bushs Juristen definiert wurde.

Diese Akten freizugeben, gegen den Widerstand seines CIA-Direktors Leon Panetta, auch gegen Widerstand im eigenen Weißen Haus, ist ein politisch enorm mutiger Schritt von Präsident Obama. Er löst damit sein Wahlkampfversprechen ein, nicht nur die Folter und die »harschen« Vernehmungsmethoden zu beenden, sondern auch die Kultur der Geheimhaltung, die den »Krieg gegen den Terror« von Anfang an umgab. Zum ersten Mal öffnet sich jetzt ein authentischer Blick in das Innerste von George W. Bushs Präsidentschaft.

Aber auch die politischen Risiken der Veröffentlichung sind enorm. Dass seine konservativen Gegner die Publikation als Gefährdung der nationalen Sicherheit geißeln, wird Obama nicht übermäßig irritieren. Bedrohlicher ist schon das Rumoren innerhalb der Geheimdienste, auf deren Loyalität er angewiesen ist. Die Späher sehen ihre Arbeit durch allzu viel Transparenz infrage gestellt. Deshalb ist Obama gleich am Montag ins CIA-Hauptquartier nach Langley geeilt, um die Agenten wissen zu lassen, wie sehr er ihren Einsatz schätze. Und um noch einmal zu bekräftigen, was er gleich nach der Öffnung der Folterpapiere versprochen hatte: CIA-Mitarbeiter, die »in gutem Glauben« lediglich Anweisungen befolgt hätten, würden straffrei bleiben.

Es ist die klassische Rechtfertigung aller Folterer dieser Welt, sie hätten nur auf Befehl gehandelt. Obama, selbst Verfassungsrechtler, weiß das. Aber waren die Agenten in den Geheimgefängnissen wirklich gutgläubig? Die Washington Post zitierte schon im Dezember 2002 einen von ihnen anonym mit den Worten: »Wenn du nicht manchmal die Menschenrechte verletzt, machst du deinen Job nicht richtig.« Und in einem der Memoranden des Justizministeriums finden sich Hinweise, dass Khalid Scheich Mohammed, der vermeintliche Chefplaner der Anschläge vom 11.September, im März 2003 insgesamt 183-mal dem »waterboarding« unterzogen wurde, weit häufiger, als von den Juristen in ihren Dienstanweisungen zugelassen. Ein Einzelfall? Ein Exzess? Vielleicht doch ein Grund, ein Strafverfahren einzuleiten?

Darf ein Rechtsstaat überhaupt auf die Bestrafung von Folterern verzichten? Manfred Nowak, der zuständige UN-Sonderberichterstatter, hat darauf hingewiesen, dass Signatarstaaten der UN-Konventionen gegen Folter völkerrechtlich verpflichtet seien, Folterer vor Gericht zu stellen. Aber wenn sich Obama tatsächlich entschließen sollte, die Kleinen nicht zu hängen, sondern sie laufen zu lassen: Was geschieht dann mit den Großen?

Wer will ausschließen, dass es Dutzende weiterer Memos gibt?

Was wird aus den Spitzenjuristen, die den Katalog der Grausamkeiten abgesegnet haben? Mindestens drei sind namentlich bekannt: Jay Bybee, seinerzeit stellvertretender Justizminister, heute Richter an einem Bundesgericht in San Francisco, auf Lebenszeit ernannt von George W. Bush. John Yoo, mittlerweile Jura-Professor in Kalifornien. Und Steven Bradbury, der jetzt als Anwalt arbeitet. Vermutlich allesamt glänzende Juristen. Aber sollen sie ungeschoren davonkommen? Und sollen sie weiter Studenten unterrichten oder Recht sprechen dürfen, ausgerechnet? Die New York Times hat bereits ein Amtsenthebungsverfahren gegen Richter Bybee gefordert. Und ein spanischer Untersuchungsrichter prüft unter Berufung auf das Weltrechtsprinzip eine Klage von Menschenrechtsorganisationen gegen sechs Angehörige der Bush-Administration, darunter auch John Yoo. Doch Rahm Emanuel, Obamas Stabschef, hat auch den Autoren der Folter-Memos öffentlich Straffreiheit zugesichert.

Dies sei nicht die Zeit, »in den Rückspiegel zu schauen«, ließ die demokratische Senatorin Claire McCaskill gleich nach der Veröffentlichung der Dokumente wissen. Und Obama erklärte, Amerika dürfe in einem Moment »gewaltiger Herausforderungen und beunruhigender Uneinigkeit« weder Zeit noch Energie darauf verschwenden, über die Vergangenheit zu richten. Man müsse »Fehler einräumen« und »voranschreiten«, sagte der Präsident bei seinem Besuch im CIA-Hauptquartier.

Es ist der Versuch, Offenheit zu schaffen, aber daraus keine Konsequenzen zu ziehen, Aufklärung und Amnestie in eins zu setzen, um das ideologisch tief gespaltene Land mitten in der Finanz- und Wirtschaftskrise nicht noch weiter auseinanderzureißen. Und es ist der Versuch Obamas, der sich mit seiner Außenpolitik des konzilianten Realismus innenpolitisch zunehmend dem Vorwurf einer Schwächung Amerikas aussetzt, nicht noch weitere Flanken aufzureißen. Aber was wäre das für ein Signal an die Welt: Wenn Amerikaner foltern, werden sie nicht bestraft? Und was würde künftig Regierungsjuristen in Washington davon abhalten, Unrecht in Recht umzudeuten, wenn Bybee und seinesgleichen straflos davonkämen?

Vieles spricht dafür, dass die Offenlegung der Dokumente eine Dynamik entwickeln wird, die auch für Obama kaum mehr zu beherrschen sein dürfte. Amerika sei noch längst »nicht am Ende des Weges«, schrieb sogar CIA-Chef Panetta. Tatsächlich, wer wollte ausschließen, dass es in den Archiven der Geheimdienste, der Armee, des Verteidigungsministeriums Dutzende andere Memoranden gibt, die in ebenso emotionsloser Prosa wie die jetzt veröffentlichten Dokumente die Staatsquälerei beschreiben. Penible Verwaltungsvorschriften für die »black sites«, die US-Geheimgefängnisse in Thailand, Rumänien, Afghanistan und anderen Staaten, wo noch »harscher« befragt werden durfte als auf amerikanischem Boden. Oder Rechtsgutachten über die Praxis der »extraordinary rendition«, der Verschleppung von US-Gefangenen rings um den Globus.

Mit jeder neuen Veröffentlichung wird der Druck auf Obama wachsen, gegen die Verantwortlichen vorzugehen. Gegen die Folterer. Gegen die Autoren der Memos. Gegen deren damalige Vorgesetzte, Minister wie Alberto Gonzalez (Justiz) oder Donald Rumsfeld (Verteidigung). Und schließlich auch gegen Vizepräsident Dick Cheney und gegen George W. Bush höchstpersönlich. Das verseuchte Erbe des »Kriegs gegen den Terror« könnte Obama in ein furchtbares Dilemma stürzen. Bleibt er bei seiner Haltung der Versöhnung, ratifiziert er nachträglich die Perversion des Rechts. Entscheidet er sich für einen Prozess gegen seinen Vorgänger, würde er das Land in einen Konflikt stürzen, wie es seit dem Bürgerkrieg keinen mehr erlebt hat.

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