Obama: Too Much Too Quickly?

<--

Will er zu viel auf einmal?

Von Matthias Rüb, Washington

27. April 2009

Das jährliche „Gridiron Dinner“ ist eines der wenigen gesellschaftlichen Ereignisse in Washington, bei dem die als „White Tie“ bezeichnete Kleiderordnung gilt. „White Tie“ heißt so, weil die Herren neben Frack, steifem Hemdkragen, Seidensocken und Lackschuhen eben auch einen „white tie“, eine weiße Fliege, zu tragen haben. Bei Damen ist das bodenlange Ballkleid erforderlich, gerne auch ein Diadem, schulterfrei ist meistens nicht erwünscht.

Ereignisse, bei denen „White Tie“ gilt, sind zum Beispiel Bankette bei Staatsbesuchen oder Opernbälle. Und auch das „Gridiron Dinner“, das der für amerikanische Verhältnisse unglaublich traditionsreiche „Gridiron Club“ jedes Jahr im Frühling ausrichtet. Der exklusive Journalisten-Club wurde 1885 gegründet, Mitgliedschaft ist nur auf Einladung möglich. Wer zum „Gridiron Dinner“ kommen darf, gehört zu Washingtons Elite.

Verrät Bidens Witz Wahrheiten aus dem Weißen Haus?

Kein Präsident seit Grover Cleveland, der von 1885 bis 1889 und dann nochmals von 1893 bis 1897 im Weißen Haus herrschte, hat im ersten Amtsjahr seiner Präsidentschaft eine Einladung zum „Gridiron Dinner“ ausgeschlagen. Barack Obama schon. Er ging an jenem Wochenende lieber mit der Familie nach Camp David, zum Wochenendsitz amerikanischer Präsidenten, und schickte stattdessen seinen Stellvertreter Joseph Biden.

Die Kunst, beim „Gridiron Dinner“ eine Rede zu halten, besteht darin, witzig zu sein. Und zwar auf eigene Kosten: Am besten kommen Reden an, bei denen sich Präsidenten in ausgelassener Selbstironie über ihre eigenen Schrullen und Charakterschwächen lustig machen. George W. Bush hat denkwürdige Reden beim „Gridiron Dinner“ gehalten, Bill Clinton und Ronald Reagan waren Virtuosen.

Auch Vizepräsident Biden könnte mit seinem Beitrag von diesem Jahr in die Annalen eingehen. Das Fernbleiben seines Chefs Barack Obama entschuldigte Biden zum Beispiel damit, dieser sei immens beschäftigt mit den Vorbereitungen aufs Osterfest: „Er denkt, es geht dabei um ihn.“ Im Weißen Haus, so hieß es später, soll man über den Witz nicht so sehr gelacht haben. Vielleicht weil mehr als nur ein Körnchen Wahrheit darin steckte?

Wenn das Volk, das ihn gewählt hat, am Mittwoch auf die ersten hundert Amtstage des 44. Präsidenten zurückschaut, dann sieht es einen Mann am Werk, der sich mit messianischem Furor darangemacht hat, die Wirtschaft und das weltweite Ansehen der Vereinigten Staaten zu retten, die gesellschaftlichen Grundlagen Amerikas umzuwälzen, den islamistischen Terroristen am Hindukusch das Handwerk zu legen und überhaupt die Welt zu einem glücklichen Ort zu machen – zum Beispiel ganz ohne Atomwaffen und mit gesundem Klima.

Gute Umfragewerte, aber ein tiefer „Meinungsgraben“

Man kann nicht sagen, dass die Flitterwochen, die jedem neugewählten Präsident von den Amerikanern gewährt werden, für Obama schon vorüber seien. Jüngste Umfragen zeigen eine stabile Zustimmung zur Amtsführung Obamas. Das Meinungsforschungsinstitut Gallup hat ermittelt, dass 64 Prozent der Amerikaner im Allgemeinen damit zufrieden sind, wie Obama seine Arbeit macht.

Der Umstand, dass sich das Land in einer Wirtschaftskrise befindet, trägt zu den relativ guten Umfragewerten für den Präsidenten bei. Auch deshalb konnte sich etwa Ronald Reagan kurz vor Erreichen der Hundert-Tage-Wegmarke einer noch höheren Zustimmung erfreuen als heute Obama: 67 Prozent der im April 1981 von Gallup Befragten zeigten sich seinerzeit mit Reagan zufrieden, wobei freilich der überstandene Mordanschlag von Ende März 1981 zu Reagans stetig wachsender Beliebtheit beitrug. Bill Clinton und George W. Bush lagen kurz vor Ablauf ihrer ersten hundert Tage jeweils knapp unter 60 Prozent Zustimmung.

An die Werte eines John F. Kennedy und eines Dwight Eisenhower, die von 83 beziehungsweise 72 Prozent der Amerikaner gute Noten bekamen, kommt freilich seit den sechziger Jahren kein Präsident mehr heran. Damals, vor allem im Streit um den Vietnam-Krieg, entwickelte sich die starke Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft, die bis heute anhält.

Kein Präsident – nicht einmal Richard Nixon – hat schon in der Frühzeit seiner Amtszeit die Wählerschaft so sehr gespalten wie Obama: Während 88 Prozent der Anhänger der Demokratischen Partei mit Obama zufrieden sind, stimmen ihm unter den Republikanern gerade einmal 27 Prozent zu. Das ist ein „Meinungsgraben“ von 61 Prozent, so tief und breit wie bei keinem anderen Präsidenten. Bei George W. Bush lagen die Meinungen der Anhänger der beiden Parteien nur 51 Prozent voneinander entfernt, beim letzten demokratischen Präsidenten Bill Clinton waren es 45 Prozent, beim gemäßigten Republikaner George H. W. Bush 38 Prozent und beim klassischen Südstaaten-Demokraten Jimmy Carter nur 25 Prozent.

Zu oft von Fehlern Amerikas gesprochen?

Dass der „Meinungsgraben“ so breit ist und angesichts der zuweilen von Hass geprägten Kritik konservativer Republikaner um den Radiomoderator Rush Limbaugh und den Nachrichtensender „FoxNews“ eher noch breiter werden dürfte, hängt auch mit der Politik Obamas zusammen. Besonders übel nehmen es außen- und sicherheitspolitische „Falken“, dass der Oberbefehlshaber bei seinen Besuchen in Europa sowie beim Amerika-Gipfel in der Karibik als Oberentschuldiger aufgetreten ist.

Dass Obama so oft wie kein anderer Präsident bei Staatsbesuchen im Ausland von Amerikas Fehlern gesprochen und den Anbruch lauter neuer Epochen der Beziehungen „auf Augenhöhe“ verkündet habe, ist auch von Beobachtern in Europa und in Lateinamerika bemerkt worden. Gewiss, die Verkündigung eines Neuanfangs gehört zu jedem Machtwechsel. Es mag auch sein, dass sich dahinter nur das machtpolitische Kalkül verbirgt, dass sich die nationalen Interessen der Vereinigten Staaten im Gewande der Versöhnlichkeit besser durchsetzen lassen als in jenem der Arroganz. Es kann aber eben auch sein, dass Obama an seine Botschaft vom Wandel selbst so innig glaubt, dass er überall einen radikalen Neuanfang machen will. Doch die Europäer wollen trotz der Charmeoffensive Obamas keine zusätzlichen Truppen an den Hindukusch schicken, und auch bei der Auflegung von Konjunkturprogrammen zur Ankurbelung der Wirtschaft sind sie nicht dem Rat Obamas gefolgt.

Kritik an Sonnenscheinpolitik

Man wird erst in einigen Monaten oder gar Jahren erkennen, ob etwa die an diesem Montag beginnenden Verhandlungen mit Russland über die atomare Abrüstung Früchte tragen werden. Und ob Washington seine Pläne zum Bau einer Raketenabwehr in Europa fallenlassen kann, weil die von Obama angekündigte „respektvolle“ Beziehung zu Teheran ein Ende des vermuteten iranischen Atomwaffenprogramms bewirken kann. Oder ob schließlich Nordkorea, wo man Obama auf dessen Europareise samt Bekenntnis zum Ziel einer atomwaffenfreien Welt mit dem Abschuss einer Langstreckenrakete begrüßt hatte, zu den Sechs-Parteien-Gesprächen zurückkehren oder sein Nuklearprogramm wiederaufnehmen wird.

Kritiker der „Sonnenscheinpolitik“ Obamas warnen davor, dass die vielen Gesten des guten Willens von den Feinden Amerikas als Schwäche ausgelegt werden. Sie warnen davor, dass Hugo Chávez in Venezuela, dem Obama beim Amerika-Gipfel auf Trinidad die Hand geschüttelt hat, sowie die Castro-Brüder auf Kuba, denen der Präsident mit der Aufhebung einiger Beschränkungen die Hand entgegengestreckt hat, zur Fortsetzung ihrer antiamerikanischen und antidemokratischen Politik weiter ermuntert werden. In Europa, Lateinamerika und Ostasien hören die Unwägbarkeiten nicht auf. In Pakistan stehen die Taliban vor den Toren der Hauptstadt Islamabad, auch im Süden Afghanistans sind sie so stark wie seit dem Sturz des Taliban-Regimes in Kabul vom Dezember 2001 nicht. Und ob es beim geplanten Abzug aus dem Irak bleiben wird, scheint angesichts der Anschläge der vergangenen Tage ebenfalls fraglich.

Umbau des amerikanischen Kapitalismus?

Auch in der Innenpolitik begnügt sich Obama nicht damit, die drängendsten Probleme wie die akute Krise in der Banken- und in der Autoindustrie sowie die Rezession mit Billionen Dollar aus neuer Schuldenaufnahme anzugehen. Er will lieber gleich den amerikanischen Kapitalismus umbauen und dem Staat künftig eine viel größere Rolle zubilligen. Rastlos wie im Wahlkampf, fliegt Obama durchs Land, verkündet hier die Energie- und Klimawende und verspricht dort den von Zwangsversteigerungen bedrohten Hauseigentümern Hilfe. An einem anderen Ort schließlich verheißt er die Modernisierung der Stromversorgung und den ökologisch verantwortlichen Aus- und Umbau der Infrastruktur. Daneben soll das System der Finanzierung des Hochschulstudiums reformiert, eine allgemeine Krankenversicherung eingeführt und bald noch die überfällige Reform der Einwanderungspolitik angegangen werden.

Ob das nicht zu viel auf einmal ist? Seit Obamas Amtsantritt gingen jeden Monat 600.000 Jobs verloren, die Zahl der Zwangsvollstreckungen wächst weiter, die Häuserpreise sinken, der Kreditfluss aus den Geschäftsbanken stockt noch immer, und in Detroit wird immer offener von geordneten Bankrottverfahren für die Autobauer GM und Chrysler geredet. Hätte es da noch des Streits um die brutalen Verhöre der CIA von mutmaßlichen Terroristenführern bedurft, verursacht durch die von Obama bewilligte Veröffentlichung ehemals geheimer Memoranden aus dem Justizministerium?

Der Streit über die Vergangenheit im Kampf gegen den Terrorismus ist dem Weißen Haus längst aus dem Ruder gelaufen: Die Linken wollen die große Aufarbeitung, die Rechten sehen Amerika gelähmt angesichts wachsender Herausforderungen an die nationale Sicherheit. Womöglich wäre weniger mehr gewesen für die ersten 100 Tage. Aber es liegen ja noch 1361 Tage bis zum Ende der ersten Amtszeit vor Obama.

About this publication