Innocence Lost

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Verlorene Unschuld

DIETMAR OSTERMANN

Dokument erstellt am 04.05.2009

Wahrscheinlich hätte Barack Obama seinem Geheimdienst nie befohlen, einen Gefangenen auf das berüchtigte “Waterboard” zu schnallen und ihm die Atemwege mit Wasser zu verstopfen. Vermutlich hätten die USA auch in den Zeiten der großen Terrorangst nach dem 11. September 2001 unter einem Präsidenten Obama Häftlinge nie gefoltert, nie geheime CIA-Knäste und Guantánamo geschaffen – oder Militärtribunale mit fragwürdigen Prozessregeln. So viel Anstand und Respekt gegenüber den Menschenrechten und dem Rechtsstaat darf man dem aktuellen Präsidenten der Vereinigten Staaten durchaus zutrauen. Eine andere Frage ist, ob Obama all das abwickeln kann, ohne sich moralisch zu kompromittieren.

Denn selbst bei besten Vorsätzen bleibt das Erbe des George W. Bush – gerade auf dem Feld der Gefangenenpolitik – für den neuen Mann im Weißen Haus ein juristisches und politisches Minenfeld. Obama mag die Exzesse der Anti-Terror-Politik seines Vorgängers mit echter Abscheu ablehnen. Ungeschehen machen kann er sie nicht.

Der neue Präsident will das Gefangenenlager Guantánamo Bay schließen, aber wohin mit den Häftlingen? Er will wieder rechtsstaatliche Prinzipien achten – doch sind faire Prozesse nach Jahren von Folter und Willkür überhaupt möglich? Es sind Fragen wie diese, an denen sich Obama beim Entwirren des Knäuels verheddern könnte.

Schon beim Umgang mit der schändlichen Foltervergangenheit haben politische Rücksichten zu einem merkwürdigen Schlingerkurs geführt. Obama hat in einem seiner ersten Erlasse Folter abgeschafft, er hat wichtige, erschreckende Dokumente öffentlich gemacht, doch er lehnt eine juristische Aufarbeitung der Folter ab. Völkerrechtlich und nach den Gesetzen der USA ist das eine unhaltbare Position. Folter ist verboten, wer sie befiehlt oder praktiziert, muss zur Verantwortung gezogen werden. Obama aber will nicht derjenige sein, der CIA-Büttel oder ihre Befehlsgeber vor die Gerichte schleift. Moralische Ambivalenz ist der Preis, den der Pragmatiker Obama für politische Rücksichten zahlt.

Das Gleiche deutet sich nun bei den umstrittenen Militärtribunalen an. Obama hatte alle Verfahren vor diesen von der Bush-Regierung geschaffenen Sondergerichten im Januar ausgesetzt. Er selbst hat sie in der Vergangenheit wiederholt kritisiert und im Kongress gegen das Gesetz gestimmt, mit dem sie eingerichtet wurden.

Gleichwohl könnt er die Tribunale aufleben lassen – weil das Weiße Haus womöglich vor jenem politischen Risiko zurückschreckt, dass Anklagen von Guantánamo-Häftlingen gerade wegen jahrelanger Folter und Willkürhaft vor der ordentlichen Justiz fast unvermeidlich mit sich bringen. Man kann sich die Reaktion in den USA ausmalen, sollten etwa mutmaßliche Top-Terroristen nach gescheiterten Verfahren den Gerichtssaal als freie Männer verlassen.

Noch hat die US-Regierung ihre Pläne nicht vorgestellt. Und nicht jedes Militärtribunal muss automatisch ein Fußtritt für den Rechtsstaat sein. Doch selbst wenn die Verfahrensregeln verändert und die Rechte der Angeklagten gestärkt werden, bliebe die Logik hinter einer Neuauflage der Tribunal-Idee fragwürdig: Gerade weil er sie stets abgelehnt hatte, würde Obama sich erst recht dem Vorwurf aussetzen, nun selbst rechtsstaatliche Prinzipien aushebeln zu wollen. Denn das einzige Argument für Militärtribunale ist noch immer, dass der Staat dort leichter Verurteilungen erreicht.

Die saubere Lösung – reguläre Anklagen, wo Beweise vorliegen, Freilassung, wo nicht – scheint auch im Washington der neuen Obama-Ära keine Chance zu haben. Man kann sogar Verständnis haben für das Dilemma des neuen Präsidenten. Wie bei so vielem gilt: Obama hat den Schlamassel ja nicht angerichtet, den er jetzt irgendwie zur allgemeinen Zufriedenheit beseitigen muss.

Doch der neue Präsident wird einen Preis bezahlen. Die Kompromisse kratzen an seiner Glaubwürdigkeit, und die Schließung Guantánamos sollte ja ein kraftvolles Signal sein, dass die USA wieder zu den westlichen Grund- und Freiheitsrechten zurückkehren. Viele seiner Kritiker werden Obama zu Recht die Widersprüche seiner Politik vorhalten. Der Präsident der großen Hoffnungen kommt in den Zwängen der Realpolitik an.

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