Kommentar
Obama entzaubert sich selbst
Der neue US-Präsident verliert seine Linie: Mit seinem Rückzieher bei der Veröffentlichung neuer Folterfotos
bestärkt er die Zweifel an der versprochenen neuen Offenheit. Und einen Schlussstrich unter die Bush-Ära
kann er so nicht ziehen.
Transparenz war Barack Obamas großes Versprechen, nun scheint es, als ob er es – und das nicht zum
erstenmal – bricht. Etwa 2000 Fotos, die den Missbrauch von Gefangenen des US-Militärs in Afghanistan und im Irak dokumentieren, sollen doch unter Verschluss bleiben. Die Bürgerrechtler von der ACLU hatten vor Gericht ihre Veröffentlichung erstritten, und das Weiße Haus hatte dem trotz Bedenken des Pentagons zugestimmt. Nun, nach Drängen der US-Kommandeure in Afghanistan und im Irak und nachdem Obama sich die Aufnahmen persönlich angeschaut hatte, rudert das Weiße Haus zurück. Eine Veröffentlichung
könne die Soldaten im Einsatz gefährden, lautet Obamas Begründung.
Die unerwartete Kehrtwende des US-Präsidenten zeigt, dass er nach mehr als 100 Tagen im Amt dem Militär und den Kriegseinsätzen in den beiden Ländern höhere Priorität einräumt als dem Prinzip der Offenheit. Bislang ist es nur eine abstrakte Befürchtung, dass neue Folterfotos oder verstörende
Aufnahmen in der Haft verstorbener Iraker zu gewaltsamen Ausschreitungen wie nach der
Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen führen könnten. Obama will die Soldaten, die im Irak und in
Afghanistan eine schwierige Mission zu bewältigen haben, diesem Risiko jedenfalls nicht aussetzen.
Seine liberalen Unterstützer sind schockiert und protestieren. Sie werden womöglich am Ende von einem
US-Gericht die Veröffentlichung erstreiten – da ist das letzte Wort nicht gesprochen. Viele sind so
angeekelt von den Rechtsbrüchen der Ära Bush, dass sie am liebsten Dick Cheney, Donald Rumsfeld oder Alberto Gonzalez und ihre juristischen Helfershelfer vor den Kadi zerren würden. Obama hat dagegen mehrfach deutlich gemacht, dass angesichts von Wirtschaftskrise, Klimawandel und Taliban-Terror eher die heutigen Krisen bewältigt als vergangene Wunden aufgerissen werden sollten.
Doch das hinterlässt einen schalen Geschmack, wie schon zuvor der Rückgriff Obamas auf die juristisch
fragwürdigen Militärkommissionen zur Aburteilung von Guantànamo-Häftlingen. Nur die uneingeschränkte
Aufarbeitung von Rechtsbrüchen lässt einen Schlusstrich zu. Manche ehemalige Diktatur – etwa Südafrika,
Guatemala oder Argentinien – haben mit Wahrheitskommissionen einen wirklichen und überzeugenden
Neuanfang geschafft. Nach dem Iran-Contra-Skandal der 80er-Jahre oder den Anschlägen vom 11. September 2001 beschloss der Kongress in Washington unabhängige Untersuchungskommissionen, die
alle Versäumnisse ans Licht brachten.
Obama mag den Schlussstrich unter die Bush-Ära schon heute ziehen wollen – doch Ruhe wird es auch für
ihn erst geben, wenn alle offenen Fragen über die Amtsführung seines Vorgängers beantwortet sind.
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