First Hate, Then Murder

<--

Kopfwelten: Erst Hass, dann Mord

02.06.2009,

Am Pfingstsonntag wurde in den USA George Tiller erchossen. Der Arzt betrieb eine Abtreibungsklinik. Jahrelang hatten christliche “Pro Life”-Aktivisten gegen den Mediziner gehetzt. Jetzt folgte auf die Propaganda eine blutige Tat. Wie kann es dazu kommen, dass Menschen töten, die doch Leben schützen wollen?

Wer noch einen Beweis dafür brauchte, dass Fanatismus keine Spezialität einer bestimmten Religion ist und geistige “Taliban” auch getauft sein können, fand ihn am Pfingstsonntag in der “Reformation Lutheran Church” von Wichita im US-Bundesstaat Kansas. Dort kümmerte sich der Mediziner George Tiller gerade um seine Aufgaben eines ehrenamtlichen Kirchendieners, als er im Foyer mit einem einzigen gezielten Schuss getötet wurde. Drei Stunden später verhaftete die Polizei einen 51-jährigen Mann namens Scott Roeder, den Zeugen in der Kirche als Täter gesehen haben wollen. Die Nummer des Fluchtautos führte die Polizei jedenfalls zu dem Hauptverdächtigen.

Ganz gleich, was die Ermittlungen im Einzelnen noch ergeben werden, dieser Mord konnte niemanden überraschen. Über die Jahre wurde der 67-jährige Tiller durch eine rabiate Propaganda buchstäblich zur Zielscheibe für jeden fanatischen “Lebensschützer”. Der Arzt und Direktor einer Abtreibungsklinik, in der Frauen auch noch nach der 21. Schwangerschaftswoche behandelt wurden, war bald einer der meistgehassten Feinde der “Pro-Life”-Bewegung. 1985 gab es einen Bombenanschlag auf die Klinik. 1993 hatte Rachelle Shannon Tiller zu töten versucht und dabei in beide Arme geschossen.

Nachdem sich nun die Nachricht von seiner Ermordung verbreitete, beeilten sich Abtreibungsgegner, alle Verantwortung von sich zu weisen und Tillers Familie zu kondolieren. Was sie wirklich dachten, konnten einige nicht runterschlucken. “Good riddance” (“Gut, dass wir ihn los sind”), schrieb beispielsweise ein kanadischer Blogger unter dem Namen “Ransom”. Keine Träne werde er Tiller nachweinen. Und der prominente Katholik Randall Terry, Gründer von “Operation Rescue” und Anführer von Protesten und Mahnwachen gegen den Arzt, formulierte seinen Nachruf auf den “Massenmörder” so: “Wir trauern, weil ihm nicht die Zeit blieb, seine Seele ordentlich darauf vorzubereiten, vor das Angesicht Gottes zu treten.”

Wieso Menschen das Gute wollen und das Böse tun

“Tiller the Killer” wurde der Mediziner in einem Video der “Operation Rescue” genannt, die inzwischen als “Operation Save America” gleich das ganze Land vor dem moralischen Niedergang bewahren will. Korrupt, pervers und böse sei Tiller, heißt es in dem Video, ein Lügner, Alkoholiker, Gotteslästerer, Schänder und Schlächter. Würde jemand versuchen, den Teufel zu beschreiben, käme er vermutlich zu einer ähnlichen Liste. Dabei hatte Tiller nichts anderes getan, als im Rahmen der Gesetze zu arbeiten. Noch im März war ihm das gerichtlich bestätigt worden. Doch was zählen weltliche Gesetze und Urteile, wenn Fanatiker glauben, Gott selbst stünde auf ihrer Seite – und nur auf ihrer Seite?

Was Menschen dazu verführen kann, das Gute (Leben retten) zu wollen und das Böse (Leben vernichten) zu tun, haben “Situationisten” wie die Stanford-Psychologen Albert Bandura und Philip Zimbardo seit den 1970er Jahren eingehend untersucht. Im Fall der Ermordung von George Tiller tritt ein Aspekt solcher Studien besonders hervor: Die “Dehumanisierung” des potenziellen Opfers. Und so erklärt sich wohl auch, warum vielen radikalen Abtreibungsgegnern die von staatlichen Gerichten verhängte Todesstrafe keine schweren Gewissensbisse bereitet. Haben die Todeskandidaten ihr Menschsein durch ihre Verbrechen nicht selbst verwirkt? So denken übrigens längst nicht nur religiöse Radikale, wie Umfragen zeigen, wenn zum Beispiel wieder mal ein besonders grausamer Kindermord aufgedeckt wird. Da ballt auch der brave Bürger schon mal die Faust, bis es knirscht.

Die Entmenschlichung des Täters führt zu Aggressionen

Nichts jedenfalls scheint Aggressionen und den Wunsch nach harter Bestrafung so freizusetzen wie die gedankliche Entmenschlichung des Missetäters. Dies bestätigt auch eine neuere Untersuchung, die der Sozialpsychologe Kenneth Locke an der Universität von Idaho durchführte. Locke entdeckte dabei, wie “nützlich” es für das Aggressionspotenzial ist, nicht nur den Feind zum Teufel zu stempeln, sondern gleichzeitig sich selbst narzisstisch zum Heiligen zu erheben. In beiden Disziplinen bringen es Fanatiker leicht zur Meisterschaft, wie Geschichte und Gegenwart lehren.

Ganze Kübel von grässlichen Unterstellungen wurden auf Tiller in den vergangenen Jahren von selbstgerechten und angeblich nach dem Gesetz Gottes handelnden “Lebensschützern” abgeladen, um ihn für jeden erkennbar zur Bestie zu stilisieren. Ist es dann einem gottesfürchtigen Gerechten zu verdenken, wenn er nach langem Ringen die letzten Skrupel aus dem Kopf löscht und das “Monster” endlich tötet?

“Turning Theology into Biography” heißt ein Motto der Fundamentalisten von “Operation Save America”, “Theologie zur Biografie wandeln”. In Wichita hat sich dieser Leitsatz wohl erfüllt: Eine scheinheilige Theologie der Selbstermächtigung und des Hasses führte zum blutigen Ende der Biografie George Tillers.

About this publication