Mobs, Shouting and Nazi Comparisons

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Gesundheitsreform in Amerika

Stoßtrupps, Gebrüll und Nazi-Vergleiche

10. August 2009 Schon am ersten Wochenende der Kongressferien hat die Debatte um die Reform des amerikanischen Gesundheitswesens eine neue politische Fieberspitze erreicht. Eine solche erkennt man daran, dass in Amerika von Deutschland die Rede ist – und zwar

von Nazi-Deutschland. Der rechtskonservative Radio-Talkmaster Rush Limbaugh will eine Ähnlichkeit zwischen dem Logo von „Obamacare“ – so werden die Reformpläne des Weißen

Hauses und der Demokraten im Kongress genannt – und Nazi-Symbolen ausgemacht haben.

Der Gedanke ist zwar abwegig, denn Obamas Leute haben für ihr Logo den geflügelten Hermesstab gewählt, eine Art verdoppeltern Äskulapstab, der mit den ausgebreiteten Adlerschwingen der Naziästhetik wenig zu tun hat. Doch der als politisches Totschlagargument bemühte Vergleich mit der Nazidiktatur soll ein bei vielen Amerikanern tief verwurzeltes Misstrauen gegen jede Form der Regierungsbürokratie ansprechen. Wenn konservative Stoßtrupps die jetzt von Obama und den Demokraten zur Rettung ihrer

bedrohten Reformpläne begonnenen Bürgertreffen mit Gebrüll zu sprengen versuchen, dann mag sich damit bloß eine politische Randgruppe überproportional lautstark bemerkbar

machen. Die Probleme Obamas und der Demokraten, das amerikanische Volk vom angestrebten Jahrhundertprojekt einer allgemeinen Krankenversicherung zu überzeugen, reichen aber viel tiefer.

Unerfreuliche Umfragen

Jüngste Umfragen haben für Obama unerfreuliche Ergebnisse gezeigt. Die Befrager der Quinnipiac-Universität aus Hamden (Connecticut) haben ermittelt, dass immer weniger Amerikaner von Obamas Führungsfähigkeiten bei der Gesundheitspolitik überzeugt sind, je

mehr der Präsident über sein wichtigstes innenpolitisches Thema redet: Anfang August äußerten sich 52 Prozent der Befragten ablehnend zu Obamas Umgang mit dem Thema und

seinen Umgang mit den Reformplänen, nur 39 waren damit zufrieden. Einen Monat zuvor hatten sich noch 46 Prozent zustimmend und 42 Prozent ablehnend geäußert. Unter den

unabhängigen Wählern, die in der Regel Kongress- und Präsidentenwahlen entscheiden, glaubten 77 Prozent dem Präsidenten dessen Versprechen nicht, wonach die Reform des

Gesundheitswesens – mit dem Kernstück der Ausdehnung des Versicherungsschutzes auf die meisten der derzeit 47 Millionen Leute ohne Versicherung – ohne ein abermals vergrößertes Defizit erreicht werden könne.

Ein weiteres Hindernis für Obama und die Demokraten im Kongress ist der Umstand, dass eine große Mehrheit jener Amerikaner, die über eine Versicherung verfügen, mit dieser

ebenso zufrieden sind wie mit den medizinischen Leistungen, die sie dank ihres Versicherungsschutzes in Anspruch nehmen können. 83 Prozent sagten bei einer Umfrage des Senders CNN, sie hielten ihre medizinische Versorgung für ausgezeichnet oder gut,

während 74 Prozent mit ihren Versicherungen zufrieden waren.

Vier von fünf Versicherten mit Versorgung zufrieden

Zwar empfinden es gewiss viele Amerikaner wie ihr Präsident als einen Skandal, dass gut 15 Prozent der Einwohner der Vereinigten Staaten nicht über eine Krankenversicherung

verfügen (und auf Kosten der Steuer- und Versicherungsprämienzahler in den Notaufnahmen der Hospitäler versorgt werden). Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass 85 Prozent der Amerikaner krankenversichert sind und dass knapp drei Viertel der Versicherten mit ihrer

Versicherung und sogar mehr als vier Fünftel der Versicherten mit ihrer

Gesundheitsversorgung zufrieden sind – und mithin an diesem Status quo nichts oder doch nur wenig ändern wollen.

Vor allem aber wächst unter der Bevölkerung offenbar die Gewissheit, dass die Reform der Gesundheitsversorgung und zumal die Einführung eines weiteren staatlichen

Versicherungsangebots nicht wie vom Weißen Haus behauptet kostenneutral erreicht werden kann. Schon jetzt ist das amerikanische Gesundheitswesen nicht nur so teuer wie in keinem

anderen Industriestaat, es ist auch hochgradig unübersichtlich. So gibt es überlappende einzel- und bundesstaatliche Zuständigkeiten: Während im neuenglischen Bundesstaat

Massachusetts bereits 2006 eine faktische Pflichtversicherung für alle Bürger eingeführt wurde, gibt es in den anderen Teilstaaten immerhin eine staatliche Versicherung für Kinder

und Jugendliche (Schip). Alle Einkommensschwachen und alle Senioren wiederum sind über die bundesstaatlichen Versicherungsträger Medicaid und Medicare versichert, die teilweise wiederum von den Bundesstaaten verwaltet werden.

Vor allem die geplante Einführung einer „public option“, also eines weiteren staatlichen Versicherungsträgers, der die Unversicherten aufnehmen soll, ohne den Haushalt zusätzlich zu belasten und den Wettbewerb der privaten Anbieter zu beeinträchtigen, stößt auf

wachsendes Misstrauen. Und dieses Misstrauen bietet die Projektionsfläche für die tatsächliche oder vermeintliche Angst der Amerikaner vor einer „sozialisierten Medizin“,

einem Regierungsbeamten mit Allmacht über Leben und Tod, vor kanadischen, britischen oder gar nazideutschen Verhältnissen im Gesundheitswesen. Die Chance auf eine sachliche Debatte ist längst vertan.

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