Der amerikanische Charakter
Von Dietmar Ostermann
11. September 2009
Ganz am Ende seiner Rede zur Gesundheitsreform hat Barack Obama jenen Grundkonflikt benannt, der es den USA so schwer macht zu tun, was in anderen westlichen Staaten selbstverständlich ist. “Womit wir es zu tun haben”, zitierte der Präsident aus einem Brief des jüngst gestorbenen Senators Ted Kennedy, “ist vor allem eine moralische Frage. Es geht nicht nur um Details einer Politik, sondern fundamentale Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit und den Charakter unseres Landes.”
Dass es einen “amerikanischen Charakter” gibt, eine eigene Denk- und Verhaltensweise, die sich von der der europäischen Vettern unterscheidet, saugen Amerikaner mit der Muttermilch auf. Doch worin dieser Charakter besteht, ist umstritten. Obama hat den “robusten Individualismus”, die “leidenschaftliche Verteidigung der Freiheit” und “unsere gesunde Skepsis gegenüber der Regierung” benannt.
In der Praxis aber steht dieser konsequente Individualismus in den USA immer auch in einem Spannungsverhältnis zu einer anderen Tradition, einer, die eben doch Gemeinschaftswerte betont. “Eine Anerkennung, dass wir alle darin zusammen sind, dass, wenn die Fügung sich gegen einen von uns wendet, andere da sind, die eine helfende Hand reichen”, hat Obama diesen zweiten Charakterzug beschrieben: “Der Glaube, dass in diesem Land harte Arbeit und Verantwortlichkeit belohnt werden sollten mit einem gewissen Maß an Sicherheit und Fairplay.”
Für Kennedy, Obama und Amerikas liberale Denkschule ist das der unverzichtbare moralische Kompass: Erst wenn jeder eine faire Chance hat, kann Freiheit sich wirklich entfalten. Deshalb gebe es nicht nur die Gefahr von zu viel Staat, sondern auch Risiken von zu wenig, mahnte der Präsident. Ohne die ausgleichende Hand kluger Politik könnten Märkte zusammenbrechen, Monopole den Wettbewerb erdrosseln, die Schwachen ausgenutzt werden.
Was in Gesellschaften weitgehender Konsens sein mag, die sich eine soziale Marktwirtschaft auf die Fahnen geschrieben haben, löst in Amerika immer wieder heftige Grundsatzdebatten aus. Für beide Seiten geht es eben stets um mehr, nämlich den Charakter der Nation. Dieser Widerstreit gilt auch für die Frage, ob jeder Bürger ein “fundamentales Recht” auf eine bezahlbare Gesundheitsversorgung besitzt, für das Edward Kennedy Zeit seines Lebens gekämpft hatte. Oder ob auch hier ein unbedingtes Freiheitsverständnis Vorrang hat, selbst wenn das bedeutet, Millionen Menschen ihrem Schicksal zu überlassen, die nichts dafür können, ob sie gesund bleiben oder erkranken.
Die gute Nachricht für Obama ist, dass nur wenige Menschen im Land die teils hysterische Radikalität derjenigen teilen, die seine Gesundheitsreform jetzt als unamerikanisch und “Sozialismus” verdammen. Die meisten Bürger wollen sehr wohl, dass der Staat ein Gesundheitssystem organisiert, das allen im Krankheitsfall den Gang zum Arzt ermöglicht. Die schlechte Nachricht ist, dass die “gesunde Skepsis gegenüber einer Regierung” auch hier gilt. Ehrliche Sorgen, ideologische Widerstände und politisch motivierte Attacken gegen die größte Sozialreform seit mehr als einem halben Jahrhundert allzu lange unterschätzt zu haben, war Obamas großer Fehler. Mit seiner Rede im Kapitol hat er den unvermeidlichen Kampf um Amerikas Selbstverständnis aufgenommen.
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