Everything Must Go!

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Alles muss raus

Von Nora Sobich

18.10.2009

Von wegen Wegwerfgesellschaft! Die Amerikaner heben ihren Krempel auf. Bis sie ihn vor ihrer Garage verkaufen – und dabei Milliarden Dollar umsetzen.

Die Ankündigungen sind nicht zu übersehen. In dicker Filzschrift auf leuchtender Pappe, hängen sie an Straßenlaternen und Verkehrsschildern. Ein Pfeil gibt die Richtung an, der man wie bei einer Schnitzeljagd ins Dickicht der Einfamilienhäuser folgt: rechts rum, ein zweites Schild, diesmal links rum, dann noch eine Kreuzung und wieder ein Schild – links rum. So irrt man durch die Straßen, bis das Haus auftaucht, dessen Sofas und Matratzen schon von weitem zwischen den Vorortbepflanzungen zu erkennen sind.

Eine ganze Familie sitzt auf Klappstühlen in der Auffahrt und trinkt in geselliger Runde Kaffee. Das Potpourri verflossener Jahre liegt wie ausgekippt im Vorgarten, als wäre es nach einer aus dem Ruder geratenen Party dort gelandet: angeschlagenes Geschirr, Videorekorder, Golfschläger, Mitbringsel zurückliegender Reisen, Klamotten, Autogepäckträger, zerschlissene Stofftiere. Als einer der Besucher eine Messinglampe mit knallbunten Glasbausteinen beäugt, springt ihr Besitzer geschmeichelt auf. Die Leuchte habe er mal besonders gern gehabt. Drei grüne Hartschalenkoffer von Samsonite aus den fünfziger Jahren gibt es für nur zehn Dollar. Im Anflug von Irrsinn nimmt man gleich alle drei mit.

Garagenverkäufe, manchmal auch „Yard Sales“ oder „Moving Sales“ genannt, sind so amerikanisch wie die Garage selbst. In den Vereinigten Staaten wird Überflüssiges und Ausgedientes nicht nur auf dem Dachboden und im Keller gelagert – den viele Häuser gar nicht haben –, sondern vor allem in der Garage. Der 70-jährige Rentner, der aus Massachusetts zu seiner Tochter nach Texas ziehen will und deswegen das gesamte Inventar seines kleinen Bungalows mit Preisschildern beklebt hat, besitzt allerdings keine. Mit brauner Campingmütze sitzt er im Hausflur und kassiert für einen weißen, telefonbuchschweren Anrufbeantworter vier Dollar. Das knarrende Schlafzimmermobiliar könnte noch aus der Eisenhower-Zeit stammen. 50 Cent kostet die Packung verklumpten Scheuermittels, als würden Supermärkte nicht schon Putzzeug für den gleichen Preis verramschen.

Das gängige Vorurteil, in den USA landeten Alltagsdinge so schnell auf dem Müll, wie man sie zuvor angeschafft hat, wird auf Garage Sales rasch widerlegt. Pro Jahr, so schätzt Robert A. Emmons, der dem Phänomen amerikanischer Kultur jüngst einen Videoclip gewidmet hat, finden sechs bis neun Millionen Garage Sales statt. Ihr Umsatz wird auf zwei Milliarden Dollar beziffert. Im Land der Konsumweltmeister, deren Besitz sich allein in den letzten 25 Jahren verdoppelt hat, wie die Soziologin Juliet Schor, Professorin am Boston College, schreibt, sind sie so etwas wie die Hintertür eines stetig wachsenden Anschaffungsdrangs. Eines der vielen Rädchen, das die hektische Warenzirkulation am Laufen hält.

Selbst in Gegenden, deren immergleiche Fertighäuser so steril aussehen, als wäre schon das Wort Müll verpönt, macht man bei den Trödelevents mit. Ein Seventies-Sammelsurium füllt die Einfahrt eines Hauses, das mit seinen Türmchen und Erkern wie ein Fake-Schlösschen aussieht. Der Besitzer, ein Schrank von Mann mit „Hells Angels“-Bart und Finger-Tattoos, kann sich kaum zurückhalten, jeden Gegenstand, ob Ritterrüstung oder TV-Dinner-Platte, mit privaten Anekdoten zu unterfüttern. Die Industrieleuchte, die erst angeht, wenn man zweimal auf ihren Anknipser drückt, sei noch aus dem Büro seines Vaters.

Die dörfliche Stimmung dieser Vorortbasare erinnert an die ländliche Fernsehwelt der „Waltons“, an das gute alte Amerika. Plötzlich kehrt Leben zurück in die sonst meist menschenleeren Straßen. Was der bimmelnd durch die Einfamilienhausidyllen fahrende Eismann für die Kinder, ist der Garage Sale für die Erwachsenen. Keiner muss also Angst haben, dass Daddy zur Schusswaffe greifen könnte, um Fremde vom Grundstück zu verjagen. Jeder ist hier eingeladen und wird ohne Misstrauen herangewunken. Im Schritttempo fährt man vor, wie bei einer Drive-in-Show, inspiziert das Angebot aus dem geöffneten Wagenfenster, und nur wenn das Szenario zu dürftig aussieht, wird wieder Gas gegeben und weitergefahren.

Zum Verkauf steht, was der Haushalt hergibt, vom Kartoffelschäler bis zur Waschmaschine, die von Käufern zum Abtransport patent auf die Ablagen ihrer Pickups gehievt wird. Ab und zu sieht man auch mal alte Shakermöbel, moderne Designklassiker oder über Jahrzehnte gehütetes Wedgwood-Porzellan. Und natürlich immer wieder die ganzen Psychobücher: Wege aus der Depression, was machen mit den Angstzuständen?

Garage Sales sind ein typisches Mittelklasse-Phänomen. Sie kamen in den fünfziger Jahren auf, als überall im Land die Einfamilienhäuser aus dem Boden schossen und Konsum zur politischen Angelegenheit wurde: Jedem ein Haus, eine Spülmaschine, einen Fernsehapparat, das wurde zur geheiligten Losung des American way of life: Ich konsumiere, also bin ich. Aber irgendwann ist selbst die größte Garage voll. Dann wird der Sperrmüll mit Preisschildern versehen vor die Tür geräumt.

Für den privaten Ausverkauf muss man keine behördlichen Genehmigungen einholen. Wann immer man möchte, kann das Trödeln einfach losgehen. Die Saison zieht sich bis in den Herbst, noch im Winter sitzen Hartgesottene in Decken gehüllt vor ihrer Garage, verkaufen Weihnachtsschmuck, angestaubte Engelchen und die Schlittschuhe der groß gewordenen Kinder.

Dass das Interieur gemeinsam mit dem Haus verkauft wird, ist in Amerika, wo man häufiger umzieht als in anderen Ländern, durchaus gängige Praxis. Man ist es gewöhnt, von vorn anzufangen. Gleichzeitig boomen seit einigen Jahrzehnten die sogenannten „Self Storage“-Anlagen. In diesen Aufbewahrungsstätten, die an Miniatur-Garagen-Landschaften erinnern, lagern inzwischen Millionen von Haushalten für einige hundert Dollar im Monat ihren persönlichen Krimskrams: All das, an dem man hängt und wofür im eigenen Haus kein Platz mehr ist. Mit der Finanzkrise, von der gleich zwei Säulen des American way of life erschüttert wurden, das Traumhaus und der Konsum auf Pump, ist nun aber auch der Luxus betroffen, sich überhaupt solche Anhänglichkeiten erlauben zu können. Viele Amerikaner müssen sich verkleinern. Selbst von persönlich Wertvollem trennt man sich leichter.

Manche Gemeinden haben daher schon zu Restriktionen gegriffen. In Weymouth, Massachusetts, begrenzte der Bürgermeister die privaten Verkäufe auf jährlich drei pro Grundstück. Denn vor manchen Häusern war der Andrang so groß geworden, dass die Garage-Sale-Cruiser Verkehrsprobleme verursachten.

Vorzeigesparen ist der neue Zeitgeist in Amerika, das „conspicuous cutting“, wie es genannt wird. Es ist die Umkehr des einst für die aufsteigenden Neureichen geprägten Geltungskonsums, des „conspicuous consumption“. Statt neu zu kaufen, tut es jetzt auch das Gebrauchte vom Secondhandmarkt. Viele fühlen sich sogar geschmeichelt, wenn sie für ein günstig bei der Heilsarmee erworbenes Kleid gelobt werden.

Ob die erzwungene Bescheidenheit, die Amerika erfasst hat, auch langfristig die Mentalität verändert, wird sich erst noch zeigen. Dass auch Ebay den Trödel bisher nicht hat verdrängen können, erklärt vor allem dessen soziales Potenzial, das Menschliche. In vielen Vororten hat es Tradition, dass Familien sich zu kollektiven Garage Sales zusammentun, die als lustige Garten- oder Grillpartys mit der Nachbarschaft organisiert werden. Vor allem Spielsachen und Kinderklamotten werden dann verkauft, es gibt Torte, Cupcakes und Limonade. Wenn am späten Nachmittag die Verkaufstische wieder abgebaut werden, hat sich nicht nur der Cash in der Tasche vermehrt und der Trash reduziert, es haben auch alle zusammen etwas erlebt.

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 18.10.2009

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