“Afghanistan Needs a Hitler”

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“Afghanistan braucht einen Hitler”

Von Christine Möllhoff

2.11.2009

Kabul. Er will dichtmachen. “So schnell wie möglich”, sagt Boris Wojahn. Morgen fährt der 32-jährige weiter nach Kundus, nun genießt er noch in einem Gartenlokal Kabuls die Herbstsonne, hinter hohen Mauern und Stacheldraht. “Keine Waffen”, steht am Einlass, wo Wachen mit Gewehren jeden Gast kontrollieren.

Wojahn ist ein Kumpeltyp, einer, der nicht in den gedrechselten Floskeln der Diplomaten redet, sondern die Dinge beim Namen nennt. Wohl nur wenige Deutsche haben die letzten Jahre in Afghanistan so hautnah miterlebt wie der Braunschweiger. Erst war er als Koch bei der Bundeswehr in Kabul stationiert, bevor er 2003 in Kundus die Herberge “Lapislazuli” aufmachte.

Seit dem ist das “Lapis” ist eine Institution, eine Oase für Ausländer, die im unwirtlichen Kundus zu tun haben, mit sauberen Bettüchern, Duschen und deutscher Kost von Bratkartoffeln bis zum Schnitzel. Doch nun laufen die Geschäfte immer schlechter.

Immer weniger Ausländer trauen sich noch in die Region. Kundus, das einst als sicherer Hort galt , ist zur neuen Kampffront geworden. Die Taliban haben die Bundeswehr als Ziel entdeckt. Und verstärkt würden sie von tschetschenischen Kämpfern, sagt Wojahn. Anfangs seien die deutschen Soldaten noch durch die Straßen gelaufen. Daran sei nicht mehr zu denken.

Nun sind die Deutschen voll auf damit beschäftigt, sich selbst zu beschützen – und igeln sich nachts im Lager ein. “Seit 2007 sehe ich es nur noch bergab gehen”, sagt Wojahn. Es klingt frustiert. Er ist nicht der einzige, der schwarz sieht für dieses wilde, schöne Land, das sich westlichen Vorstellungen so sehr entzieht.

Auch die Jugend verliert die Hoffnung. Und Afghanistan seine Hoffnungsträger. “Die Jugend, die was im Kopf hat, verpisst sich”, sagt Wojahn. Nur die Ungebildeten und die Armen blieben zurück.

Selbst in Kabul fühlt man sich dieser Tage wie auf einem sinkenden Schiff. Und das Wahlchaos verstärkte das Gefühl des Niederganges.

Während die USA Präsident Hamid Karsai in eine Stichwahl drängten, reisen viele Ausländer wie etwa Helfer, Diplomaten und Geschäftsleute, aus – um den Verlauf der Dinge aus sicherer Entfernung abzuwarten. Die Taliban haben gedroht, rumzubomben.

Die Afghanen müssen bleiben

Die Angst vor dem Terror ist allgegenwärtig: Es wimmelt von Kontrollen, Soldaten, die mit ihren vor den Mund gebundenen Tüchern eher wie wilde Milizen aussehen, kreuzen auf Jeeps durch die Straßen. Und über der Stadt schwebt einem gigantischen Goldfisch gleich ein Zeppelin am Himmel, der aus der Luft das Botschaftsviertel überwacht.

Nur von Wahlkampffieber spürt man nichts, selbst in Kabul sind kaum Plakate zu sehen. Tatsächlich glaubte zuletzt kaum noch jemand, dass am 7. November wirklich gewählt wird.

Nachdem Oppositionsführer Abdullah Abdullah seine Kandidatur zurückzogen hat, ist Amtsinhaber Karsai der einzige Kandidat. Eine solche Ein-Mann-Show würde die Wahl völlig zur Farce machen.

Hinter den Kulissen suchen die USA verzweifelt nach einem Ausweg aus dem seit über zwei Monaten währenden Schlamassel.

“Die Menschen haben diese Wahlen satt”, sagt der Paschtune Mirwais, während er die Wespen verscheucht, die das Glas Fanta seiner kleinen Tochter umschwirren. Mirwais ist erst 26 Jahre alt, aber schon Witwer. Seine junge Frau starb, wahrscheinlich an Nierenleiden, und auch das sagt viel aus über den Zustand Afghanistans und über den Mangel an medizinischer Versorgung aus.

Die Afghanen seien sauer, dass die UN für dieses Wahltheater Millionen verpulvere, sagt Mirwais. Das Geld solle besser in den Aufbau fließen. “Niemand wollte eine zweite Runde. Nur die Ausländer”.

Obgleich er den Paschtunen Karsai unterstützt, wollte Mirwais nicht wählen gehen. Zu gefährlich, meint er. Das hört man allenthalben. Die allermeisten Afghanen scheinen keinerlei Lust zu haben, erneut ihr Leben zu riskieren. “Warum soll ich wählen gehen”, schnaubt auch der Kellner Ahmed. Der 25-jährige Hazara mit den hohen Wangenknochen klingt, als habe man ihn eine anstößige, oder zumindest saublöde Frage gestellt.

Das Restaurant im Herzen Kabuls wirkt wie ein Mikrokosmos des Landes – zwischen Kalaschnikow-Kultur, Islam und neuen Freiheiten. An der Wand hängen altertümliche Gewehre, während auf dem modernen Flachbildschirm tadschikische Popvideos laufen – mit Mädchen in Miniröcken und mit tiefen Ausschnitten.

Zwar hat die Zensurbehörde das nackte Frauenfleisch überblenden lassen, aber allein, dass die Videos gezeigt werden, wäre vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen.

In den Taxis dudelt nun Musik, am Freitag fliegen über Kabul wieder die bunten Drachen am Himmel. All das war unter den Taliban verboten.

Die Wahlen haben fast alle enttäuscht: “Was ist aus meiner Stimme geworden”, empört sich der Hazara Ahmed. Er glaubt, dass Karsais Leute seinem Kandidaten die Stimmen gestohlen haben.

Mirwais sieht das wie viele Paschtunen, die mit 45 Prozent die größte Volksgruppe stellen, völlig anders. Der Westen habe Karsai durch falsche Betrugsvorwürfe den verdienten Sieg im ersten Wahlgang geraubt, glaubt er. Er versteht die Aufregung im Westen nicht: “Ein bißchen Wahlbetrug gibt es doch überall.”

Andere wollen von all dem nichts mehr wissen. “Why not?” – Warum nicht, antwortet der weißbärtige Gemüsehändler auf die Frage, ob er zur Wahl geht. Das bedeutet weder Ja noch Nein, sondern wohl mehr, dass ihn das nicht interessiert.

Der Sieger sind die Taliban. Sie haben mit Anschlägen nicht nur gezeigt, dass selbst Kabul nicht sicher ist. Sie verhöhnen den Endlos-Streit um die Wahlen als “Seifenoper”. Fraglos hat das Debakel die junge Demokratie nicht gestärkt.

Die Sehnsucht nach dem starken Mann wächst. “Afghanistan braucht einen Hitler”, sagt Mirwais, wobei man wissen muss, dass viele in Südasien, auch in Indien etwa, Hitler nicht als Massenmörder, sondern vor allem als starke Führungspersönlichkeit wahrnehmen.

“Wir brauchen keine Demokratie

Auch Ahmed meint: “Wir brauchen keine Demokratie. Wir brauchen einen Pinochet, einen Fidel Castro oder einen Atatürk.” Selbst Demokratie-Befürworter sagen hinter vorgehaltener Hand ähnliches, formulieren es nur vornehmer: Notwendig sei ein von den UN eingesetzter Präsident, nicht ein gewählter”, findet ein Bürgerrechtler, der nicht namentlich zitiert werden will. “Karsai und Abdullah müssen weg.”

Die wahren Verlierer dieser Wahl sitzen nicht in Afghanistan, sondern in Washington und Europa. Der Westen hat den Einsatz am Hindukusch zuhause mit dem Kampf für die Demokratie gerechtfertigt.

Das verkannte, dass sich eine mittelalterliche Stammesgesellschaft nicht in wenigen Jahren ummodeln lässt. “Die Afghanen wollten dieses System nicht”, sagt Wojahn. “Die haben ihre eigene Art, die Dinge zu regeln, die Loya Jirga etwa, die große Ratsversammlung.” Nun hat das Wahlfiasko und der Wahlbetrug die Kritik am Afghanistan-Einsatz im Westen angeheizt statt zu besänftigen. Die Sinnfrage wird gestellt: Was macht der Westen in Afghanistan?

Und die Frage wird lauter: Ist Afghanistan überhaupt noch zu retten. Und wenn ja, wie? Das Land steckt in der Krise – politisch, militärisch und wirtschaftlich. Der Westen macht es sich zu bequem, wenn er alle Schuld Karsai und seiner korrupten Regierung anlastet. Auch die Internationale Gemeinschaft kann sich nicht auf die Schulter klopfen.

In zwei Jahre sind die Amerikaner und ihre Verbündeten genauso lange da wie die Russen waren, bevor sie 1989 gedemütigt abzogen Der Vergleich fällt nicht unbedingt zugunsten des Westens aus. “Die Russen haben viel für die Allgemeinheit getan”, sagt Wojahn. Sie haben Straßen gebaut und Wohnblocks mit Zentralheizung. In Afghanistan, wo die Temperatur im Winter 30 Grad unter Null sinken kann, ist das Traum.

Heute blüht in Afghanistan vor allem eins, das Opiumgeschäft. Und das direkt unter der Nase der internationalen Truppen. Der Aufbau geht dagegen viel zu oft nur schleppend voran. Die Internationale Gemeinschaft scheint oft unkoodiniert nebeneinander herzuwursteln oder sich zu verzetteln.

Nur 20 Prozent der Finanzhilfen kämen tatsächlich bei den Afghanen an, 80 Prozent der Gelder flössen dagegen in die Geberländer zurück, weil diese die Aufträge eigenen Firmen oder Hilfsorganisationen zu schusterten, schätzen Experten.

Bis heute hapert es an dem Nötigsten. Afghanistan braucht Straßen, Strom und Jobs. “Und die Menschen brauchen was zum Futtern, was zum Heizen im Winter, Schulen und eine medizinische Grundversorgung”, sagt Boris Wojahn.

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