Schluss mit dem Selbstbetrug in Afghanistan
Von Jacques Schuster
17. November 2009, 17:49 Uhr
Der Westen hat die Geduld verloren. Er will raus aus Afghanistan. Doch die Argumente für einen raschen Abzug sind fadenscheinig. Wäre es nicht endlich an der Zeit, ehrlich zu sein? Der Westen ist schlichtweg nicht mehr in der Lage, Ordnungskriege zu führen. Gefragt sind jetzt zwei Länder aus dem Osten.
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Der Westen zieht sich aus Afghanistan zurück – wenigstens im Geiste. Immer lauter werden die Stimmen, die nach Exit-Strategien rufen, immer offener debattieren Experten, ob es wirklich zutrifft, dass al-Qaida das Land am Hindukusch noch als Rückzugs- und Räuberhöhle braucht.
Lassen sich Anschläge nicht auch im Sudan, in Somalia, in Pakistan und in den Vorstädten von London, Paris, New York oder Hamburg planen? Sicherlich, also Abmarsch und raus. Nur auf Pakistan müsse man achten. Islamabad besitzt die Atombombe.
Doch wie stellt man es an, Reißaus zu nehmen, ohne das Gesicht zu verlieren? Die Antworten darauf sind so zahlreich wie gewieft: Zunächst behauptet man, dass der Haufen von Waffenträgern, der sich afghanische Armee nennt, eigentlich schon recht fesch, im Grunde bereits jetzt ansehnlich ist. Sicher, unter den Augen der Amerikaner und Europäer müssen die Jungs noch lernen, wie man furchterregend durch den Staub robbt – ein Paar mehr von den Soldaten könnten es auch sein –, doch im nächsten Jahr schon sollten die Uniformierten zumindest den Norden des Landes übernehmen. Die Nato will es so, und die Deutschen jubeln.
Freilich muss man vorher noch der Öffentlichkeit klarmachen, was keiner jemals ahnen konnte, was stets ein Geheimnis war und zutiefst schockierend ist, nämlich – man höre und staune –, dass Hamid Karsai, Afghanistans Ritter ohne Fehl und Tadel, bestechlich, käuflich, doppelzüngig, kurzum, rundum verderbt ist. Für so einen Präsidenten sollen wir das Leben unserer Soldaten gefährden? Auf keinen Fall! Oder doch? Eines ist jedenfalls seit je klar: Korruption, dein Name ist Afghanistan.
Seit den Jahren Abdul-Rahm Kahns (1880 bis 1901), König Amanullahs (1919 bis 1929) und Zahir Schahs (1933 bis 1973), kurz, seit der Zeit, da Afghanistan glaubte, „moderner Staat“ heißen zu dürfen, ohne ein staatliches Gerüst zu besitzen, blüht im Land die Vetternwirtschaft, die Bestechlichkeit und das Faustrecht des Stärkeren. Die Kommunisten und die Sowjets taten seit 1980 nichts, die Verhältnisse zu verbessern. Im Gegenteil, sie verschlechterten sie und bekamen seit 1994 sogar noch Verbündete in Form der Taliban.
Zwar sorgten diese seit 2001 im Land für Ordnung, staatliche Strukturen aber errichteten sie nicht. Wen wundert es unter diesen Umständen, dass Afghanistan seit den Aufzeichnungen der Weltbank als einer der korruptesten Flecken der Erde gilt? Wer staunt in dieser Lage darüber, dass zwei Drittel der afghanischen Bevölkerung die Korruption für eine beständige Tatsache halten? Übrigens: Die Umfrage stammt nicht aus den Geheimunterlagen der CIA und ist eben erst veröffentlicht worden. Die unabhängige Organisation Integrity Afghanistan Watch hat sie 2006 in Auftrag gegeben. Darin geben 50 Prozent der Befragten zu, in den vergangenen sechs Monaten Bestechungsgelder bezahlt zu haben.
Hamid Karsai ist nicht der Kopf des Übels, er ist das Ergebnis desselben – wie jeder, der auf seinem Posten sitzt. Die Europäer wissen das, doch sie zeigen sich empört. Karsai zu beschuldigen passt in den Plan.
Wäre es nicht an der Zeit, endlich ehrlich zu sein? Der Westen hat die Geduld verloren. Er will raus aus Afghanistan. Walter Laqueur, der große alte Chefstratege des Washingtoner Thinktanks CSIS, hat es kürzlich geschrieben: Seit Jahrzehnten ist es die Schwäche der amerikanischen Strategie, Herkulesaufgaben erfüllen zu wollen, die nichts kosten und nur wenige Soldaten binden dürfen. Die Europäer sehen das ähnlich. Erfolge in Afghanistan sind auf diese Weise jedoch nicht zu verzeichnen. Schlimmer noch: Der Westen ist zu Ordnungskriegen nicht mehr in der Lage. Vielleicht war er es nie.
Was folgt daraus? Bei künftigen Konflikten bedeutet es, sich auf genau abgesteckte Ziele zu beschränken und auf die üblichen Sonntagsreden vom demokratischen Staat zu verzichten, der im Krisenland geschaffen werden muss. Mit Blick auf Afghanistan heißt das, neue diplomatische und militärische Initiativen zu ergreifen. Russland und China müssen mehr Verantwortung tragen.
Ziehen sich die Truppen aus der Region zurück, werden beide Länder als erste unter dem neuen Islamismus leiden. Vielleicht sollten die Soldaten auch noch einmal massiv verstärkt werden, um eine letzte Großoffensive gegen die Taliban zu starten. Eines ist jetzt auf jeden Fall vonnöten: das Ende der Flunkerei.
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