Poor America

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Armes Amerika

Von Sebastian Stache

In den USA müssen immer mehr Menschen hungern

Vor einer guten Woche wurde in den Vereinigten Staaten Thanksgiving gefeiert. Der Ursprung dieses wichtigsten Feiertags des Landes liegt in einem großen Gelage, das die ersten Einwanderer im Herbst 1621 aus Dankbarkeit für die Ureinwohner des Kontinents ausrichteten, ohne deren Hilfe sie den Winter nicht hätten überleben können. Es gab genug für alle, und jeder wurde satt. Doch während heute beim einen Teil der Bevölkerung die Kühlschränke noch immer mit Resten vom opulenten Festmahl gefüllt sind, kämpft der andere Teil gegen Mangelernährung. Die Zahlen, die das Landwirtschaftsministerium unlängst veröffentlicht hat, sind schockierend. Demnach können es sich 45 Millionen US-Amerikaner nicht leisten, ausreichend Essen zu kaufen. Das sind knapp 15 Prozent der Gesamtbevölkerung und zehn Millionen Menschen mehr als vor zwei Jahren. Noch dramatischer sieht die Situation bei Kindern aus: Jedes vierte ist auf staatliche Nahrungshilfe angewiesen.

Da hilft es kaum, daß die zuständige Behörde USDA den Begriff »Hunger« kurzerhand durch das besser verdauliche Wort »Nahrungsmittel­unsicherheit« ersetzt hat. Dieser PR-technische Kunstgriff kann über den gravierenden Mißstand nicht hinwegtäuschen. Zu eindeutig sind die Indizien für zunehmende Armut im reichsten Land der Welt. Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen, daß ausgerechnet der Staat, der mehr Lebensmittel exportiert als jeder andere, die eigenen Bürger hungern läßt?

Ein Grund für die massive Zunahme der Zahl von US-Bürgern, die sich selbst Lebensmittel nicht mehr leisten können, ist die rapide steigende Arbeitslosigkeit. Seit Ausbruch des weltweiten Wirtschaftsbebens, das sein Epizentrum bekanntlich in den Vereinigten Staaten hatte, haben dort 7,3 Millionen Menschen ihren Job verloren. Dadurch hat sich die Arbeitslosenquote binnen eines Jahres mehr als verdoppelt. Zuletzt stagnierte sie bei rund zehn Prozent. Wenn man berücksichtigt, daß Erwerbslose in den USA von keinem Sicherungsnetz aufgefangen werden, kann man erahnen, wie hart sie fallen. Der Abstieg vom Hausbesitzer zum Obdachlosen innerhalb weniger Monate ist daher ein ebenso reales Szenario wie das vom gefüllten Kühlschrank zur Armenspeisung.

Ein weiterer Faktor, der die Situation zusätzlich verschlimmert, ist die ungleiche Verteilung von Reichtum. So konnten die 400 reichsten US-Amerikaner ihr Vermögen in den letzten zehn Jahren um 700 Milliarden Dollar vergrößern, während das Durchschnittseinkommen der unteren Schicht im selben Zeitraum um 1600 Dollar pro Jahr abnahm. Obgleich auch die Wohlhabenden die Folgen der Finanzkrise spüren, weil ihre Aktienpakete und Immobilien an Wert verloren haben, bleiben sie von existentiellen Sorgen verschont.

Erschwerend hinzu kommt für die vom Hunger Betroffenen eine Mischung aus Stolz und nationaler Überzeugung, daß jeder für sein Schicksal verantwortlich sei. Im »Land der Freien« und der »Heimat der Mutigen« schickt es sich nicht, auf staatliche Hilfe angewiesen zu sein. Deshalb bedeutet für etliche auch ein völlig unverschuldetes Abrutschen in die Armut vor allem eine persönliche Schmach. So ist es auch zu erklären, daß viele Bedürftige in den USA keine Unterstützung suchen, obwohl sie diese bitter nötig hätten. In Kalifornien etwa nimmt nur die Hälfte der Menschen, denen Nahrungshilfe zusteht, diese auch in Anspruch.

Und weil viele US-Bürger Solidarität für ein kommunistisches Unheil halten, läßt die Bereitschaft, anderen in diesen schweren Zeiten zu helfen, stark zu wünschen übrig. Die Armenküchen von New York vermeldeten zum diesjährigen Thanksgiving-Fest einen Spendenrückgang von 60 Prozent, während die Nachfrage um 40 Prozent anstieg.

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