Das kranke Ende der Health Care Reform
Von Christian Lehner
20.1.2010
Über ein System, das nicht gesunden will, persönliche Erfahrungen damit und welchen Einfluss das Ergebnis der Senatswahlen in Massachusetts auf das wichtigste innenpolitische Vorhaben Obamas haben könnte.
Health! Where is your care?
Wir haben Glück, wir sind krankenversichert. Ich über meine Frau. Sie über ihre Arbeit. Wir zählen nicht zu jenen 30 Millionen in den USA lebenden Menschen, für die eine simple Verkühlung tödliche Folgen haben kann, weil sie sich keine Versicherung leisten können, illegal im Land leben, oder ihre Firma keinen Health Care Plan anbietet.
Wir sind also auf der sicheren Seite. Sind wir?
Kurz vor Jahreswechsel hat die Firma meiner Frau bekannt gegeben, den Health Care Provider zu wechseln. Das dürfen sie in den USA. Die Versicherungen sind private Dienstleister. Wer kostengünstigere Angebote legt, bekommt den Zuschlag. Nicht immer zum Vorteil der Angestellten.
Die Belegschaft der Firma meiner Frau reagierte mit Verunsicherung. Wie hoch werden die monatlichen “premiums” (Versicherungsbeiträge) ausfallen? Was muss ich bei einem Arztbesuch selbst bezahlen (“co-pay”)? Wo liegt bei einem Unfall oder einer schweren Erkrankung das “out of pocket maximum”, also jener Deckelungsbetrag, der aus der eigenen Tasche bezahlt werden muss? Wie hoch ist die “deductable rate”, der Mindestbeitrag, der in jedem Fall auf die Krankenhausrechnung kommt? Wo liegt bei den drei preislich gestaffelten Packeten das “life max”, also jene kritische Marke von Behandlungskosten, bei deren Überschreiten die Versicherung aussteigt – egal ob man noch “treatment” braucht oder überhaupt chronisch krank ist.
Pre Existing Conditions
Die Mitarbeiter der Firma meiner Frau machten sich also Sorgen. Würde der neue Versicherungsanbieter bereits bestehende Erkrankungen als “pre existing conditions” qualifizieren, als gesundheitliche Beeinträchtigungen, die schon vor Abschluss der Versicherungspolicen bestanden haben und deshalb ein Ausschließungsgrund wären?
Ich kenne jemanden, dem genau das schon einmal passiert ist: Rückenschmerzen. Arztbesuch. Behandlung kein Problem. Versicherungswechsel. Neuerliche Behandlung. Rote Karte vom Health Care Provider. Die “medical records” hätten eine “pre existing condition” ausgewiesen. Erst die Drohung mit einem Anwalt brachte die Versicherung zum Einlenken.
Aufatmen nach erfolgter Recherche: Der Bundesstaat New York hat bereits die Ablehnung wegen Vorbelastung per Gesetz verhindert. Immerhin.
Free As In Market
Die Krankenversicherung funktioniert in den USA ähnlich wie jene für Kraftfahrzeuge in Österreich. Im Schadensfall muss man häufig streiten. Der Unterschied: Die Folgen können bei der US-Krankenversicherung noch lange nach einem Unfall tödlich sein – aus rein finanziellen Gründen.
Health Care ist eines der lukrativsten Geschäfte im Amiland. Das Streben der Versicherungsanbieter gilt der Gewinnmaximierung und nicht der Gesundheit der Gemeinschaft. Dabei ist die Höhe der Beiträge nicht einkommensabhängig, sondern Verhandlungssache zwischen Anbieter und versicherungstragenden Firmen.
Der Marktlogik folgend bekommen große Corporations in der Regel die besseren Deals für ihre Mitarbeiter, einfach weil sie viele Menschen beschäftigen.
Kleinunternehmen hingegen können sich den Schutz ihrer Dienstnehmer oft gar nicht leisten oder müssen wesentlich höhere Beiträge für schlechtere Versicherungsleistungen bezahlen.
Und weil medizinische Behandlungen nun mal teuer sind, versuchen die Anbieter bei den Leistungen zu sparen. “Payment denied”, dieser knappe Satz im Antwortschreiben auf Zahlungsanträge kommt in einzelnen Fällen einem Todesurteil gleich*.
It’s sicko
Aber es gibt noch mehr Gründe, warum das US-Gesundheitssystem krank macht. Die Bürokratie ist ineffizient, zeit- und kostenintensiv – also alles, was der so genannte Freie Markt angeblich von allein regelt. Diese Dysfunktionalität geht zu Lasten der Patienten und Ärzte, der Firmen und Steuerzahler. Praxen, Apotheken und Firmen beschäftigen Mitarbeiter, die sich eigens um die selbst für Profis kaum durchschaubaren Versicherungsregelungen kümmern.
Jedes Rezept, jede Behandlung muss über langwierige Prozesse gegengeprüft werden (was in der Apotheke in der Regel zu sehr langen Wartezeiten führt).
Befindet man sich nicht im staatlichen Programm der Medicaid (Bedürftige unter bestimmten Konditionen), kostet jeder Arztbesuch, jede Notfallaufnahme, jeder Rettungseinsatz Co-Pay. Selbst die Altersverischerung Medicare (für Senioren) muss aus der eigenen Tasche unterstützt werden.
The Great Project
Aber was ist das? Time for change? Wollte Präsident Obama nicht all das ändern? Versicherungsschutz bei Jobverlust? Keine “pre existing condition”-Klauseln mehr? Das Angebot einer staatlichen Fürsorge als Alternative zu den Privaten, finanziert über Umverteilung? Enlastung für Kleinunternehmer, sodass diese ihren Beschäftigten Versicherungsschutz anbieten können? Aufnahme der Nichtversicherten in verschiedene Programme? Eine Health Care Reform, die fast “universal” ist, also dem Lebenstraum von Senator Ted Kennedy ziemlich nahe kommt?
Not anymore. Mit der gestrigen Wahlniederlage im tief demokratischen Massachusetts hat sich gezeigt, dass die US-Amerikaner diesen Wandel nicht wollen. Nach nur einem Jahr im Amt, also einer Periode, in der kein größeres Reformvorhaben wirksam werden kann, hätten die Wähler genug vom “government spending”, von “sozialistischer” Gesundheitsreform und all den Schrecklichkeiten des Obama-Regimes, das absolut alles falsch gemacht habe und also nichts richtig. So lauteten jedenfalls die ersten Kommetare auf CNN und Co. Teaparty for ever!
Statt dessen hat man einen Vertreter jener Geisteshaltung in den zweiten Senatssessel von Massachusetts gewählt, der bis auf Punkt und Komma dem Bush/Cheney-Kurs das Wort redet (allerdings im Wahlkampf betulichst darauf geachtet hat, als Independet zu erscheinen und nicht als Republikaner). “Lower taxes”, “less government”, Anti-Washington, die alten simplen GOP-Antworten auf komplexe Fragen der modernen Welt. Sie trüben in Zeiten der Krise die Erinnerungsfähigkeit. Ein Jahr ist genug.
Hello 1994!
Mit der dadurch erfolgten Mandatsverschiebung im Senat haben die Republikaner nun die Möglichkeit, Gesetzesbeschlüsse zu blockieren.
Hat Obamas Health Care Bill auf dem Weg durch die beiden Kongresskammern ohnehin schon genug Federn lassen müssen, kann man sich nun wohl endgültig von einer tiefgehenden Gesundheitsreform verabschieden. Die Republikaner sind momentan sowieso geschlossen dagegen, die gesellschaftlichen Fronten verhärtet und konservative Demokraten in Absprungslaune.
Dass diese Wahlniederlage(n – siehe auch New Jersey und Virginia) auf lokaler Ebene durchaus als normale Reaktion auf die Machtübernahe auf Bundesebene zu lesen sind? Klaro! Dass die Health-Care-Deals der Regierung mit einzelnen Senatoren eine Rolle gespielt haben und die “Change Washington”-Rhetorik Obamas ad absurdum geführt haben? Aber hallo! Dass die überhebliche Old-School-Kampagne der Kandidatin der Demokraten erbärmlich war wie jene von McCain/Palin? Auch das wird als Grund der gestrigen Niederlage angeführt.
The Great Depression – auch das eine Krankheit.
Die Mehrheit der Polls unmittelbar nach dem Urnengang in Massachusetts zeigte jedoch, dass die Health Care Reform Obamas den Ausschlag für die meisten WählerInnen gegeben hat, für ein ehemaliges Unterhosenmodel zu votieren.
Passiert ist das in Massachusetts, das nicht nur traditionell eine Hochburg der Demokraten ist, sondern ein Bundesstaat, der seinen Bürgern Health Care anbietet, die dem “universal” Traum von Ted Kennedy sehr nahe kommt.
Dass ausgerechnet Ted Kennedys Tod im Vorjahr diese Senatswahl notwendig machte und schlussendlich seinen Traum post mortem zum Scheitern verurteilt hat, fügt sich nahtlos in die bitterschwarze Familiengeschichte der persönlichen und politischen Tragödien der Politiker-Dynastie ein. Ein Tod mit Folgen für Millionen.
Stupid Change
Umfragen in den USA zur Health Care ergeben stets das selbe: Die große Mehrheit der US-Amerikaner ist mit dem bestehenden Versicherungssystem zufrieden. Aber reflektiert diese Zahl nicht bloß jene Versicherten, die bisher das Glück hatten, weder schwer krank noch arbeitslos geworden zu sein?
Wenn alles bestens ist, warum werden als häufigste Ursache für Privatkonkurse und bankrotte Familien ausufernde Gesundheitskosten ausgewiesen? Warum scheint es niemanden zu jucken, dass das US-amerikanische Gesundheitssystem das teuerste und ineffizienteste der westlichen Welt ist? Ist es tatsächlich die Erblast der Prägung, die Angst vieler Amerikaner vor staatlicher Intervention und dem Unbekannten?
Übrigens: Der Versicherungswechsel der Firma meiner Frau hat fast funktioniert. Unsere monatlichen Premiums sind trotz Leistungsminderung empfindlich teurer geworden. Meiner Frau wurde bei der ersten Beitragszahlung der falsche Plan verrechnet. Und obwohl vor Ort bar bezahlt, habe ich erst gestern per Post eine Co-Pay-Aufforderung von meinem Arzt erhalten.
Und wir haben Glück, wir sind gesund. Und – hmm – krankenversichert.
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