Obama’s Triumph

<--

Obamas Triumph

Von Martin Klingst

22.3.2010

Der Präsident hat erreicht, woran dutzende seiner Vorgänger scheiterten: In den USA kommt die allgemeine Krankenversicherung. Von Martin Klingst, Washington

Um 22.45 Uhr Washingtoner Zeit riss es die demokratischen Abgeordneten im US-Repräsentantenhaus von den Stühlen, Jubel brandete auf. In diesem Moment zeigte die Digitalanzeige im Versammlungssaal an, dass 216 Abgeordnete, das notwendige Quorum, der Jahrhundertreform Barack Obamas zugestimmt hatten. Amerika, das stand ab diesem Moment fest, erhält eine grundstürzende Gesundheitsreform, nicht sofort, aber Schritt für Schritt, und einiges davon schon in diesem Jahr.

In absehbarer Zeit werden 32 der insgesamt 47 Millionen nicht versicherten US-Bürger Mitglied einer Krankenkasse sein. Die Kassen dürfen niemanden mehr wegen einer Vorerkrankung abweisen oder wegen zu hoher Arztkosten hinauswerfen. Mehr oder weniger gilt jetzt: Es gibt eine Pflicht, sich zu versichern – und eine Pflicht, zu versichern.

Das ist ein historischer Schritt, für Befürworter wie für Gegner. Für die Unterstützer erfüllt Amerika eine längst überfällige Fürsorgepflicht für seine Bürger, ein ebenso moralisches wie ethisches und ökonomisches Postulat. Sie stellen die allgemeine Krankenversicherung in eine Reihe mit der Einführung der Sozialversicherung vor 75 Jahren und der Krankenversicherung für Rentner vor 45 Jahren, ja gar mit der Einführung der Bürgerrechte für Schwarze.

Für die Gegner hingegen entfremdet sich Amerika von sich selbst, vom Kern seines Gründungsgedankens und seines Auftrags. Sie erblicken in einer allgemeinen Krankenversicherung einen unzulässigen Eingriff des Staates in das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, in die Freiheit des Individuums. Für sie schlagen die Demokraten einen gefährlichen, unamerikanischen Weg ein und steuern schnurstracks auf einen bürokratischen, staatlich gelenkten Wohlfahrtsstaat, ja, auf den Sozialismus zu.

Vor 100 Jahren hatte Präsident Theodore Roosevelt erstmals eine Reform der Krankenversicherung und Krankenversorgung angemahnt. Viele seiner Nachfolger sahen das ähnlich, unter ihnen auch viele konservative. Am Weitesten reichte der Plan des republikanischen Präsidenten Richard Nixon, der viel weiter ging als das jetzt von den Demokraten gegen den energischen Widerstand der Republikaner beschlossene Gesetz.

Aber die meisten Präsidenten wagten nicht zu handeln. Und wer handelte, scheiterte. Barack Obama ist der Durchbruch gelungen. Auch weil erstmals Ärzte- und Krankenhausverbände, Gewerkschaften, viele Unternehmen und die Pharmaindustrie die Reform unterstützten. Den stärksten Widerstand leistete die Versicherungsindustrie.

Und dennoch votierte nur eine äußerste knappe Mehrheit für dieses Jahrhundertgesetz. Gerade einmal 219 stimmten dafür, 212 dagegen. Der republikanischen Opposition schlossen sich 34 Demokraten an. Es war ein Tauziehen und eine Zitterpartie, bis zum Schluss.

Am Wochenende stießen die Meinungen noch einmal unerbittlich aufeinander. Eine Mehrheit für die Gesundheitsreform war keineswegs sicher, zu viele Demokraten hatten Bedenken; sie zögerten und fürchteten die Rache der Wähler. Am vergangenen Sonnabend trat Präsident Obama noch einmal mit einer aufrüttelnden Rede vor die demokratischen Abgeordneten. Er drängte sie, die Möglichkeit Geschichte zu schreiben, nicht wieder leichtfertig zu verspielen.

Niemand wisse, ob der Wähler den Wandel honorieren würde, sagte Obama. Doch es gehe in dieser historischen Stunde nicht darum, nach der nächsten Wahl zu schielen, sondern das Richtige für das Land und seine Menschen zu tun. Was er nicht sagte, aber zwischen den Zeilen stand: Dieses Gesetz, diese Abstimmung entschied auch über Wohl und Wehe der Obama-Präsidentschaft.

Zuerst überzeugten die Demokraten die Sparkommissare in ihrer Partei, denn die fürchteten, das Gesetz würde den riesigen Schuldenberg weiter anhäufen. Doch die überparteilichen Haushaltskommissare beruhigten mit ihrem jüngsten Bericht: Auf lange Sicht, heißt es da, würde die Reform die Schulden senken – um 1,2 Billionen Dollar.

Dann wurden die Abtreibungsgegner ins Visier genommen. Ihre Bedenken: Abtreibungswillige könnten mit den geplanten staatlichen Prämienzuschüssen solche Versicherungen kaufen, die auch für die Kosten eine Abtreibung aufkommen. In letzter Minute versicherte Barack Obama ihnen in einer Erklärung: Es bleibt bei der alten Politik – Keine Abtreibung auf Staatskosten.

Am Sonnabend, als der Präsident sprach, zogen tausende Reformgegner vor den Kongress und machten ihrer Wut Luft. Sie riefen: „Kill the bill“ und „Wer mit Ja stimmt, dem werden wir es zeigen. Die Rache des Wählers ist gewaltig.“ Demokratische Abgeordnete, die an ihnen vorbeizogen, wurden abwechselnd als Nazis, als Sozialisten, als Diktatoren oder Mehrheitstyrannen beschimpft. Schwarzen Politikern schleuderte man das furchtbare N-Wort entgegen. „Nigger“ – so habe ihn seit den Bürgerrechtsprotesten niemand mehr genannt, empörte sich der Abgeordnete John Lewis aus dem US-Bundesstaat Georgia.

Bei der Abstimmung im Repräsentantenhaus lagen die Nerven dann blank. Monatelang hatten sich die Parteien befehdet. Als klar wurde, dass die demokratischen Abtreibungsgegner sich mit Obamas Klarstellung zufrieden geben und der Gesundheitsreform über die Klippe helfen würden, brüllte ein aufgebrachter Republikaner: „Babykiller“.

Im Weißen Haus fiel man sich danach in die Arme. Es war geschafft, der Präsident zog seinen Füller und unterschrieb das Gesetz, das noch in dieser Woche ergänzt werden wird. Kompliziert, aber wahr: Das Repräsentantenhaus hat der vom Senat verabschiedeten Gesundheitsreform am Sonntagabend nur unter einer Bedingung zugestimmt: dass der demokratisch dominierte Senat seinerseits in den nächsten Tagen Ja zu den Änderungswünschen der Abgeordneten sagt. Der demokratische Mehrheitsführer hat es versprochen.

Erleichtert trat Obama kurz vor Mitternacht vor die Kameras und rühmte die Gesundheitsrevolution. Ein Jahr hat er sich ihr gewidmet, sie wird nun kommen. Doch der Streit darüber wird bleiben.

About this publication