Obama Strikes Back

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Obama schlägt zurück

von Stefan Kornelius

22.03.2010

Ein Jahrhundertgesetz, verabschiedet mit nicht einer einzigen Stimme der Republikaner: Selten war die Trennung der politischen Lager in den USA so hasserfüllt. Der US-Präsident hat sein politisches Meisterwerk vollbracht – und die Rolle des Versöhners aufgegeben.

Thomas Jefferson, Amerikas Apostel für die Botschaft der Demokratie, hat vor 220 Jahren alles Nötige gesagt, was es braucht, um sein Land auch im Jahr 2010 noch zu verstehen. “Die Tyrannei der Legislative ist gegenwärtig die größte Bedrohung, und sie wird es für viele Jahre bleiben”, schrieb Jefferson in einem Brief an James Madison, seinen Nachfolger im Präsidentenamt der noch jungen Vereinigten Staaten. Vor der Regierung hatte Jefferson keine Furcht, sie hielt er für kontrollierbar. Es war das Parlament, das mit seiner despotischen Art geradezu Eifersucht beim ersten Mann im Staate auslöste.

Und so hat Barack Obama, Jeffersons 41. Nachfolger im Präsidentenamt, nun ebenfalls seine besondere Erfahrung mit der Macht des Parlaments gemacht. Die Demokraten verabschiedeten mit ihrer unbarmherzigen Mehrheit die Gesetze zur Gesundheitsreform, verschafften ihrem Präsidenten einen nicht zu wiederholenden politischen Triumph und nahmen so in gewisser Weise Rache für die Jahre der Demütigung und Ausgrenzung als Minderheit im Kongress. Ein Jahrhundertgesetz, verabschiedet mit nicht einer einzigen Stimme aus dem Lager der republikanischen Minderheit – selten war die Trennung der politischen Lager in den USA so schroff und hasserfüllt.

Die schrille Auseinandersetzung im Kongress ist für Amerika nicht ungewöhnlich: “Nichts ist so unwiderstehlich wie die tyrannische Kraft, die im Namen des Volkes befiehlt”, schrieb der französische Politiker Alexis de Tocqueville, der vielleicht bekannteste Therapeut, der sich mit Amerikas Gefühlslage beschäftigte. Diese Kraft, so Tocqueville nach dem Studium des US-Systems, mag in moralische Stärke gekleidet sein, die sich aus der Mehrheit ableitet. “Aber sie handelt mit der Entscheidungskraft, der Geschwindigkeit und der Hartnäckigkeit eines einzelnen Mannes.”

Da ist es also zu sehen, das doppelte Gesicht der amerikanischen Demokratie: Die Mehrheit ist unbarmherzig im Umgang mit der Minderheit – aber nur so lässt sich andererseits die Erneuerungsfähigkeit eines Systems erklären, das nach einem demokratischen Wechsel mit gleicher Radikalität und Euphorie in die andere Richtung marschiert.

Die Welt hat all diese Extreme in den letzten Jahren zur Genüge erlebt: Die Gnadenlosigkeit einer parlamentarischen Mehrheit im Umgang mit einem Präsidenten, der ein Verhältnis mit einer Praktikantin pflegte; die Taubheit eines Parlaments im Umgang mit Folter und falschem Krieg; die Regeneration des politischen Systems binnen eines Wahlzyklus; und nun der von der Minderheit als Tyrannei empfundene Gesetzgebungsprozess auf dem Weg zu dem neuen Gesundheitssystem – der wichtigsten und größten Sozialreform, die Amerika in einem halben Jahrhundert erlebt hat.

Mit dem von Tocqueville so saftig beschriebenen “despotischen Geschmack und Instinkt” hat Barack Obama nun sein politisches Meisterwerk vollbracht, seine erste, aber womöglich auch wichtigste Leistung im Präsidentenamt – womöglich gar seine einzige, die bleiben wird. Denn Obama hat mit der Abstimmung im Repräsentantenhaus die Rolle des Versöhners aufgegeben.

Dieser Präsident wird nicht mehr den überparteilichen Vater der Nation geben – er kann es nun nicht mehr. Obama musste seine Partei mit autoritärer Macht die Mehrheitsverhältnisse klar machen lassen: Ich oder die anderen – das war die Alternative. Obama entschied sich für sein eigenes politisches Überleben. Hätte er die Reform aufgegeben oder weiter nach einer parteiübergreifenden Mehrheit gesucht, dann wäre er weich und entscheidungsunfähig erschienen. Einen weichen Präsidenten aber wählen die Amerikaner nicht mehr.

US-Gesundheitsreform Ein Hauch von “Yes, we can”

Die Gesundheitsreform ist eine große politische Leistung, ein Bauwerk, das erst in Jahren – nach Neuwahlen und vielen Gerichtsentscheidungen – gefestigt sein wird. Politisch hat sie den Präsidenten in das Lager der Demokraten zurückgeholt und seiner rhetorischen Beliebigkeit und Großzügigkeit ein hartes Fundament verpasst. Viele Amerikaner, nicht nur die Anhänger der Republikaner, mögen es ablehnen, dass sie der Staat zu einem privatwirtschaftlichen Versicherungsgeschäft nötigt. Solche Entscheidungen treffen sie lieber alleine. Aber Obamas Zielstrebigkeit wird ihnen mittelfristig Respekt abnötigen.

Obama hat eine soziale Reform in den USA durchgesetzt, die ihm möglicherweise schon deswegen nicht gedankt wird, weil die Nutznießer – die große Zahl der bisher Unversicherten – im Zweifel nicht wählen gehen. Der parlamentarische Kraftakt hat ihn ein Jahr, viele Stimmen und den Heiligen-Mythos gekostet. Dafür durfte Obama, wenn er es nicht vorher schon wusste, eine wichtige Erfahrung machen: Amerika ist keine Konsensdemokratie. Das Land lebt von der Tyrannei der Mehrheit. Es absorbiert die politischen Extreme dank seiner Größe und Schwerfälligkeit.

All das macht Gesetze nicht haltbar und Reformen nicht notwendigerweise dauerhaft. Um so mehr gebührt dem Präsidenten Anerkennung dafür, dass er der Gefahr nicht ausgewichen ist. Seine Risikoprämie wird sich erst in knapp drei Jahren berechnen lassen.

(SZ vom 23.03.2010/woja)

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