Four American Stories

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Fressen gegen den Frust, der Vater im Pflegeheim, die Freundin geht fremd und die Schönheit des Sabbats: vier Geschichten über das heutige Amerika. Von Stehaufmännchen und Frauen, die ihren Weg gehen. Vier Episoden mit einem halben Happyend.

Dominiques Heisshunger auf Eier

Nachdem Dominique Browning ihren Job verloren hatte, fing sie an zu fressen. Zwölf Jahre lang hatte sie als Redakteurin für „House & Garden“ gearbeitet, ein Magazin, das seinen Lesern erklärte, wie man in einem ordentlichen abgesteckten Rahmen – vergleiche Voltaires Diktum „Il faut cultiver notre jardin“ – ein gutes Leben führt. Nun wurde das Magazin über Nacht eingestellt, und Dominique Browning stand plötzlich ohne Lebensinhalt da.

Die Wochenenden fand sie erträglich: Auch die Leute um sie herum hatten dann nichts zu tun. Aber normale Arbeitstage waren eine Plage. Jeden Morgen zwang sie sich aus den Federn, obwohl es für sie nichts zu tun gab. Einmal trat sie samstags vor die Wohnungstür. Dabei fiel ihr auf, dass die Männer alle mit polierten Schuhen auf der Straße dahinhasteten. Da merkte sie: Es war Freitag. „Der Rhythmus meines Lebens war so langsam geworden, dass ich kämpfen musste, um mit ihm Schritt zu halten“, schreibt sie.

Außerdem entwickelte sie, wie gesagt, einen Dauerheißhunger. Vor allem auf Eier in jeglicher Form. Sie bereitete sich um acht Uhr ihr Frühstück, und eineinhalb Stunden später schlug sie sich schon die nächste Portion in die Pfanne. Bei einer Verabredung zum Lunch in Manhattan konnte sie sich nur mühsam zurückhalten, das Gebäck in ihre Handtasche zu stopfen, das zur Vorspeise serviert wurde. Ihr freudsches Unbewusstes interpretierte die Arbeitslosigkeit als Hungerdrohung. Ihr Körper wollte Fettreserven anlegen.

Jonathan Rauch kämpft um seinen Vater

Jonathan Rauch verlor nicht seinen Job, aber seinen Vater. Der war irgendwann nicht mehr wiederzuerkennen, er wurde zu einer peinlichen Version seines früheren Selbst. Rauchs Vater litt an der parkinsonschen Krankheit – wenigstens wurde dies zu Anfang angenommen. (Später stellte sich heraus, dass es sich um ein tückisches Nervenleiden handelte.) Der Sohn holte ihn eines Tages mit dem Auto in Phoenix in Arizona ab und brachte ihn in eine Wohnung in Washington D.C., wo er selbst lebte. Auf diese Weise, dachte er, würde er nach dem Vater schauen und ihm ein bisschen im Haushalt helfen können.

Am dritten Tag fand er in seinem Badezimmer eine Plastikschüssel voller Fäkalien und verdreckte Babywindeln. Das Waschbecken und der Boden waren mit einer braunen Masse beschmiert. In der Küche klebte ein halber Liter Eiscreme am Boden, der zu einer festen Masse geronnen war. Alles halb so wild, meinte der alte Herr, er werde das alles selbst wieder sauber machen. Er wollte sich partout nicht helfen lassen. „Stur“ ist allerdings nur eines von vielen Adjektiven, die Jonathan Rauchs Vater in dieser Phase seines Lebens charakterisieren: „Er war außerdem charmant, einfallsreich, großzügig, freundlich, witzig und ausgesprochen begabt darin, Freunde zu finden und die Menschen um ihn herum in Verbündete zu verwandeln.“

Allerdings ließ ihn sein Körper im Stich. Irgendwann fand sein Sohn ihn auf dem Fußboden liegend; er konnte nicht mehr aufstehen. Volle Arbeitstage gingen flöten, während Jonathan Rauch nach Ärzten suchte und ihn zu medizinischen Check-ups kutschierte. Untersuchungen haben ergeben, dass Erwachsene, die sich in Amerika um ihre kranken Eltern kümmern, ihren Job, ihre Krankenversicherung (so vorhanden), ihre Pension und ihre geistige Gesundheit riskieren. „Das Risiko für die geistige Gesundheit kann ich selbst bezeugen“, so Jonathan Rauch.

Als Letterman Joe die Freundin raubte

Joe Haldermann verlor weder Vater noch Job; er verlor seine Freundin. Eines Abends stand er vor seiner bescheidenen Hütte in Connecticut in der Dunkelheit und schaute zu, wie ihr schwer berühmter Boss sie in seinem Sportwagen nach Hause fuhr. Die beiden umarmten einander leidenschaftlich, bevor sie ausstieg. Sie war jung. Sie war hübsch. Sie war gescheit. Und Joe Haldermann hatte wie Abermillionen im Fernsehen dabei zugeschaut, wie ihr Boss sie schrittweise verführte: Er hatte sich mit ihr über Stripperinnen unterhalten und neckisch gefragt, ob sie Hotdogs liebe.

Sie hatte sich zum Dank als Kobold und als Schulmädchen verkleidet und ihren Boss mit piepsiger Stimme aufgefordert: „Beiß mich, Opa!“ Bei ihrem Boss handelte es sich nämlich um den größten aller amerikanischen Talkshowstars: um David Letterman. Eigentlich konnte jedem längst klar sein, was zwischen ihm und seiner hübschen Assistentin passierte, wenn gerade keiner zuschaute. In den Klatschspalten der Zeitungen war zu lesen, dass Letterman seinem Fahrer, wenn er in seine Limousine stieg, einen von zwei Befehlen gab: entweder nach Hause zu seiner Familie oder in das Liebesnest, das er mit ihr in Manhattan eingerichtet hatte.

Joe Haldermann arbeitete selbst fürs Fernsehen. Er war als Reporter erst für CNN, dann für CBS unterwegs gewesen: während des Falklandkriegs in Argentinien, während des Jugoslawienkriegs im belagerten Sarajevo, kurz vor dem Golfkrieg von 1991 beim leibhaftigen Saddam Hussein. Als er nun ganz allein in der Finsternis stand und seine Freundin mit dem Star sah, ging etwas in seiner Seele kaputt. Er beschloss, sich bitter zu rächen. War er nicht ein Mann vom Fach, ein Drehbuchautor?

Judith Shulevitz verliert ihren Glauben

Judith Shulevitz verlor ihren Glauben. Als junge Frau war sie in die Kirche der Dekonstruktionisten eingetreten: Im Literaturseminar in Yale hatte sie gelernt, dass Texte in ihrem tiefsten Grund keine Bedeutung haben, zumindest nicht jene Bedeutung, die Autoren in ihn hineinlegen. Jedes Gedicht, jeder Roman, jeder philosophische Essay war nichts als eine Allegorie seiner eigenen Blindheit.

Der Guru von Judith Shulevitz war ein nuschelnder Belgier; wie alle Studenten hing sie ehrfurchtsvoll an seinen Lippen. Er hatte Krebs und würde bald sterben, dies machte seine Aura noch strahlender. Und dass Paul de Man – denn so hieß der Charismatiker – ein Kollaborateur der Nazis gewesen war, dass er antisemitische Zeitungsartikel geschrieben hatte, wusste damals noch kein Mensch. Eines Tages begann ein orthodoxer Jude, sich brennend für Judith Shulevitz zu interessieren. Sie ließ sich von ihm immerhin zum Kaffee einladen. Es kam, wie es kommen musste: Sie fand sich eines Freitagabends als Gast bei einer streng religiösen Sabbatfeier wieder. Die Kerzen leuchteten, die Hausfrau sprach den Segen, während sie die Augen mit ihren Händen bedeckte, in dampfenden Schüsseln wurde Hühnersuppe aufgetragen.

Am nächsten Morgen begleitete sie den jungen Mann und seine Mutter in die Synagoge. Sie saß auf der Frauenempore und hoffte, niemand würde merken, dass sie aus Mangel an jüdischer Erziehung kaum fähig war, die Gebete mitzusprechen. (Dabei wurde dies von ihr als Frau gar nicht verlangt – aber auch das wusste sie nicht.) Judith Shulevitz verstand an jenem Sabbat, dass dieser höchste Feiertag des jüdischen Kalenders sie nicht nur von jeglicher Arbeit, Mühe und Plage, sondern auch von der Verdinglichung befreite. Sie war mit ihrem Dekonstruktivisten-Latein gründlich am Ende.

Vier Geschichten – und wie sie weitergingen

Vier amerikanische Geschichten, die auf sehr unterschiedliche Art endeten. Die Arbeitslose zog aus dem Haus, in dem sie ein Vierteljahrhundert lang gewohnt hatte, in ein Häuschen auf Rhode Island, um Kosten zu sparen. Dort begann Dominique Browning, wie im Fieber zu lesen: Ovid, Dante, Homer, die Bibel von einem Buchdeckel zum anderen. Nachts setzte sie sich ans Klavier und spielte Bach.Johann Sebastian Bach kurierte sie von ihrem unsinnigen Hunger, ihrer Daseinsangst. „Ich besitze nicht die Kühnheit zu denken, ich hätte Gott gefunden“, schreibt sie im Magazin der „New York Times“. „Allerdings glaube ich, dass ich in ein Gespräch hineingestolpert bin, von dem ich hoffe, dass es den Rest meines Lebens andauern wird.“

Jonathan Rauch fing an, manisch mit jedem Gleichaltrigen, der seinen Weg kreuzte, über die Probleme mit seinem Vater zu sprechen. Dabei stellte er fest: Eine ganze Generation von Amerikanern ist offenbar völlig damit überfordert, ihre alten und kranken Eltern zu pflegen. Am Ende fand er den Mut, seinem Vater entgegenzutreten. „Ich sagte ihm, dass er längst mit einem Pfleger lebte, dass aber ich der Pfleger war“, schreibt Rauch in „The Atlantic“. „Dass mich diese Aufgabe überwältigte, dass ich nicht zureichend für sie qualifiziert war und dass ich die Sache emotional kaum aushielt, dass ich wieder sein Sohn sein wollte und keine nörgelnde Krankenschwester.“ Das sah sein Vater ein. Er verbrachte den Rest seiner Tage glücklich in einem Pflegeheim.

Joe Halderman, dem seine Freundin das Herz gebrochen hatte, traf einen Anwalt von David Letterman in einem Hotelzimmer; er ließ sich von ihm einen Scheck über zwei Millionen Dollar für ein Drehbuch über das schmierige Privatleben des Talkshowstars geben. Was Joe Haldermann nicht wusste: Der Scheck war nicht echt, Letterman hatte längst die Polizei informiert. Die saß in einem Nebenzimmer und schnitt die ganze Transaktion auf Band mit. Halderman wurde wegen versuchter Erpressung angezeigt. Für Letterman hatte dies eine interessante Nebenwirkung, wie er der Zeitschrift „Vanity Fair“ verriet: Er musste vor einer Jury in Manhattan aussagen, „und ich musste ihnen all die gruseligen Sachen beschreiben, die ich getan hatte“. Eine Rache für Halderman war dies allerdings nicht. Er wurde zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Die Geschichte von Judith Shulevitz, die den Glauben an den Dekonstruktivismus verlor und dafür die Schönheit des Sabbats entdeckte, könnte so ausgehen, dass sie die Thora studierte, ihren orthodoxen Galan heiratete und fortan alle 613 Regeln des jüdischen Religionsgesetzes einhielt. Schließlich steht die Story im konservativen Magazin „Commentary“. Aber das wirkliche Leben ist selten so geradlinig. Judith Shulevitz hat den Mann, der um sie warb, nach jenem Sabbat nicht wieder zurückgerufen.

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