Two along the Way of the Cross

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USA und UdSSR

Zwei auf dem Kreuzweg

Christian Schmidt-Häuer vergleicht heute die Reformer Gorbatschow und Obama

Damals, am 17. Mai 1985, hielten wir alle den Atem an. Der Mann am zierlichen Geländer des vormaligen Smolny-Instituts für adlige Töchter in St. Petersburg schien nicht von dieser Welt des realen Sozialismus zu sein. Wo sonst greise Funktionäre endlose Erfolgsstatistiken stockend vom Blatt lasen, sprach Michail Gorbatschow völlig frei. Rechnete Verluste vor. Ballte die Fäuste mit angewinkelten Armen, um wie eine Maschine den neuen Arbeitsrhythmus zu demonstrieren, mit dem die Bürger ihre Sowjetunion retten sollten. Ungläubiges Staunen ging durch das Land und um die Welt. Gerade zwei Monate im Amt, forderte der Medienstar: »Wir müssen uns alle umstellen – vom Arbeiter bis zu den Staatsführern.«

Am 20. Januar 2009 rief der neue Präsident der Vereinigten Staaten von den Stufen des Kapitols in Washington mit fast den gleichen Worten zum Aufbruch. »Ab heute müssen wir aufstehen, den Staub abklopfen und mit der Arbeit beginnen, Amerika zu erneuern«, verhieß Barack Obama am Tag seiner Amtseinführung.

Beide traten als Moralapostel an. Als Brüder einer Mission, die Zwänge und Zügel ihrer Systeme nicht zu fürchten versprach. Halb glaubten sie selbst daran, halb drängten die auf einen Heilsbringer hoffenden Gruppen ihnen die Erlöserrolle auf. Beide signalisierten den fundamentalen Bruch mit ihren Vorgängern, die ihnen nicht nur den jeweiligen Afghanistankrieg hinterlassen hatten. Gorbatschow hatte ein bankrottes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem geerbt, Obama die Schuldenspirale, die Spekulationsblasen der Wall Street, die globale Finanzkrise. Sie wappneten sich dagegen mit dem Mantel des Weltgewissens. Obamas Präsidentschaft sollte »der Moment werden, in dem unser Planet zu heilen beginnt«. Gorbatschow predigte den »Bruch mit Denkweisen und Verhaltensmustern, die sich über Jahrhunderte herausgebildet haben«.

Die Magie der Propheten reichte nur einen Sommer lang. Dann taten viele Landsleute Gorbatschow bereits als boltun, als Schwätzer ab. Vornehmer umschrieb die New York Times ein Vierteljahrhundert später ihren Befund: »Obamas narratives Vakuum«. In der Sowjetunion hintertrieben die Altkommunisten alle Versuche des Reformers, eine neue Kultur des Parlamentarismus mit dem Machtmonopol der Partei zu versöhnen. In den USA formierten sich die Republikaner zur No- Partei. So wie in Gorbatschows Tagen die antisemitischen Roten zur russisch-rassistischen Vereinigung Pamjat strömten, so putschen sich heute wütende Weiße mit ihren Tea-Partys gegen die vermeintlich düstere Bedrohung ihrer Freiheit auf.

Tapfer hielten die Helden, die der Hass so schnell einholte, dagegen. Der Russe ließ aus Panzern Kühlschränke machen, um die Sowjetunion vor dem Offenbarungseid und »die Lebenskraft dieser Zivilisation« zu retten. Der US-Präsident sagte den Großbanken den Kampf an und versprach die Abkehr vom verschwenderischen American Way of Life.

Das waren die Momente, in denen die Missgeburten der Systeme zurückschlugen, als wollten sie die Ohnmacht der Reformer beweisen. Am 26. April 1986 – im 13. Monat der Amtszeit Gorbatschows – verursachte der Reaktorbrand von Tschernobyl die größte Umweltkatastrophe der Sowjetunion. Die Armee, der letzte Rettungsring der Weltmacht, war ebenso ohnmächtig wie Gorbatschow, als die ersten Helfer ohne Schutzkleidung den Betonmantel über die tödlich strahlende Ruine stülpten. Am 20. April 2010 – im 15. Monat der Amtszeit Obamas – verursachte die Explosion der Bohrplattform im Golf von Mexiko die größte Umweltkatastrophe in der Geschichte der USA. Die Armee, hoch technisiert wie keine zweite in der Welt, ist ebenso ohnmächtig wie der Präsident, seit die BP-Ingenieure das sprudelnde Bohrloch zu schließen versuchen.

Die Ursachen der Katastrophen waren genau die Übel, die Obama und Gorbatschow zu bekämpfen versprachen. Doch viele Klienten sind des Helden Tod. Noch vor Gorbatschows Amtsantritt gab es alarmierende Dossiers über den Zustand der sowjetischen Kernkraftwerke. Auch die Konstruktionsmängel in Tschernobyl hielten die Atomindustrie nicht von weiteren Planungs- und Bedienungsfehlern ab.

Obama hatte trotz aller Warnungen nur wenige Wochen vor der Katastrophe neue Unterwasserbohrungen zugelassen. Und die Ölindustrie durfte am Golf in Louisiana staatliche Inspektionsberichte schon mal selbst ausfüllen.

Eine Kette weiterer Katastrophen beschleunigte den ohnehin unaufhaltsamen Untergang des Sowjetimperiums. Verfassung und Freiheitsversprechen der USA halten bei allem Missbrauch den Verlust der Weltmachtrolle noch auf. Doch Gorbatschow einst und Obama heute verbindet die bittere Erfahrung, dass der Kreuzweg für einen Messias beginnt, wenn seine Visionen dem System gefährlich werden.

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