Nicht nur körperlich ist Marshall Breger ein gewichtiger Mann. In den Achtzigerjahren war er Berater von Präsident Reagan in Angelegenheiten des Islam und der Muslime. Als Republikaner und Wissenschaftler mag er menschheitsumarmendes Geschwafel nicht. Ein mit allen Wassern gewaschener Realismus ist dem fröhlich-skeptischen Mann, der stets eine Kippa trägt, ins Gesicht geschrieben. Der Juraprofessor, der an der Columbus School of Law an der Catholic University of America in Washington lehrt, hat als Forscher ein sehr spezielles Hobby: Bei verschiedenen heiligen Stätten im Nahen Osten streiten sich die drei großen Religionen der Region darum, wer welches Zugangsrecht zu diesen Stätten hat – in diese juristischen Fragen mit weitem historischem Hinterland versenkt sich Breger mit Vergnügen.
Um dann aber mit ganzer Kraft in die Gegenwart zurückzukehren. Er, der illusionslose Republikaner, hatte die Idee, hohe Repräsentanten der amerikanischen Muslime zu einem Besuch der Konzentrationslager Dachau und Auschwitz-Birkenau einzuladen. Was nicht ohne Weiteres zu erwarten war – die Einladung wurde angenommen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung übernahm die Organisation.
Das idealistische Unternehmen hatte natürlich einen realpolitischen Hintergrund, Breger wollte etwas erreichen. Nicht erst seit den höhnischen Bemerkungen des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad über den Holocaust, den dieser bezweifelt, weiß man, dass es zur Grundausstattung islamistischer Propaganda gehört, den Genozid an den Juden Europas zu relativieren oder gar zu leugnen. Und diese Propaganda verfängt bis weit in die Kreise moderater Muslime hinein. Würde man diese durch Anschauung überzeugen können, dass es den Holocaust wirklich gab, würde man ihnen ohne großen Aufwand verständlich und erfahrbar machen können, welch entsetzliches Menschheitsverbrechen der Versuch war, Menschen allein ihrer Herkunft wegen massenhaft zu ermorden – dann würde das vielleicht eine erste Bresche in die feste muslimische Mauer schlagen, die aus Underdog-Bewusstsein, Israel-Feindschaft und einem schwelenden Antisemitismus gewirkt ist.
Hohe Repräsentanten der Muslime aus den Vereinigten Staaten sagten zu, etwa zehn Imame, Kaplane, Verbandsvertreter und Wissenschaftler nahmen an der Reise teil, die in dieser Woche stattfand. Sie zeigte, dass das Unterfangen nicht aussichtslos ist, unter Muslimen ein Verständnis für die europäische Erfahrung des Holocaust zu erwecken. Sie zeigte aber auch, dass dieses Unterfangen schwierig und rückschlagreich ist und dass es durch den Massentourismus, der heute Stätten wie Auschwitz-Birkenau prägt, nicht eben leichter wird.
Am Abend vor der Busfahrt nach Auschwitz ein Dinner im feinen und traditionsreichen „Hotel Pod Roza“ in Krakau, das zu den Ersten am Ort gehört. Maciej Szpunar, der stellvertretende polnische Außenminister, ist eigens aus Warschau angereist, um die illustre Gruppe zu begrüßen. Man sitzt an einem langen Tisch, große, weiße Kerzen stehen auf dem Tisch, der mit prächtigen Blumen geschmückt ist. Die Tischreden sind freundlich und bemüht, alle wissen, dass sie sich auf rutschigem Parkett bewegen, dass die Worte wohlgesetzt sein und dass sie Problemzonen meiden müssen. Das bringt eine gewisse Steifheit in die ansonsten eher lockere Runde. Der örtliche Rabbi entbietet seine Grüße, Imam Muzammil Siddiqi, der früher Präsident der Islamic Society of North America (ISNA) gewesen war, betont, was in diesen Tagen häufig beschwörend zu hören ist: dass der Islam, wie jede Religion, friedlich sei und von der Achtung vor allen Menschen, auch andersgläubigen, geprägt sei. Ein milder Akademieton verbreitet sich im Saal, der Wille ist gut.
Siddiqi, der mit seiner dezent verschleierten Frau gekommen ist und zum schwarzen Jackett ein elegantes weißes Hemd mit kurzem Stehkragen und untergelegten Knöpfen trägt, ist ein Mann, der Ruhe und innere Selbstgewissheit ausstrahlt. Er spricht in dem Sound, der auf interreligiösen Treffen stets zu hören ist. „Wir verstehen“, sagt er, „wie sehr der Holocaust unsere jüdischen Brüder und Schwestern verletzt hat.“ Deswegen müsse man jetzt nach vorne blicken und das Gespräch suchen und miteinander reden und aufeinander zugehen und in den Dialog treten. Und er entwirft ein günstiges Bild von den Muslimen in den USA: Sie seien Muslime geblieben, und trügen doch ganz die Werte der Vereinigten Staaten von Amerika mit.
In der Tat: Viele Untersuchungen, etwa 2007 eine große, auf Befragungen basierende Studie des PEW-Instituts, haben einen positiven Befund zu Tage gefördert: Anders als in Europa fühlte sich die übergroße Mehrheit der Muslime in den USA nicht ausgeschlossen, sondern integriert und akzeptiert – was auch daran liegt, dass sie (mit Ausnahme des freilich großen Anteils der afroamerikanischen Muslime) nicht am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala stehen, sondern in ihrer Mehrheit dem gehobenen Mittelstand angehören. Nach „9/11“ gingen demonstrativ Bilder um die Welt, die hohe muslimische Repräsentanten zusammen mit Präsident Bush am Rande von Ground Zero zeigten. Und doch, auch in den USA bröckelt es, der radikalere Islam ist – besonders für Junge – nicht mehr ganz unattraktiv. Grund genug also, den großen westlichen Konsens zu schärfen und sich seiner mit dieser für Muslime prekären Reise zu vergewissern.
Auschwitz-Birkenau ist kein Reiseziel wie andere. Davon ist im Bus, der die Gruppe am nächsten Morgen die etwa 60 Kilometer nach Auschwitz bringt, nichts zu spüren. Eine gewisse Betretenheit wird dadurch überspielt, dass alle ihre Gespräche von gestern Abend fortführen: Man tauscht sich über dies und das aus, über Dinge des Alltags. Keiner merkt es, als der Bus plötzlich vor dem Besuchertor von Auschwitz haltmacht, wo zahlreiche Busse und sogar Campingbusse stehen und Massen von Touristen emsig ein- und ausgehen. Keine Atmosphäre der Sammlung, des Gedenkens. Bevor die Gruppe den Bus verlässt, mahnt die Mitarbeiterin einer amerikanischen Behörde, die die Reisenden begleitet, doch bitte fortan Gespräche über dies und das zu lassen und sich ganz auf den Ort zu konzentrieren.
Ist der Schrecken, der den Ort einmal prägte, ihm heute noch anzusehen? Es geht betont nüchtern zu, Krysztina Oleksy, stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, spricht nicht über den Holocaust, sondern über das Museum und seine Konzeption. 350 Objekte, 1,3 Millionen Besucher pro Jahr. Zweck der Gedenkstätte sei es, Mentalitäten zu ändern. Was sie hochgemut verkündet, klingt in der englischen Übersetzung so: Jeder, der Auschwitz verlässt, „is a better person“. Die muslimische Runde hört aufmerksam zu, Notizen macht sich keiner. Es mag auch mit Befangenheit und der Scheu, öffentlich zu emotional zu werden, zu tun haben, dass ein Großteil der Fragen ebenfalls sehr nüchtern und technisch ausfällt: Steht das Museum genau auf der Stelle, wo das Morden geschah? Wie viel ist hier noch im originalen Zustand? Wo sind die Gaskammern?
Dass es sich hier doch um anderes und mehr als einen Bergwerksbesuch handelt, zeigt etwa die Frage von Imam Mohamad Magid, der aus dem Sudan stammt und Vizepräsident der ISNA ist: „Warum hat man aus dieser Stätte ein Museum gemacht? Es ist doch, mit all der Asche, die hier verstreut ist, in Wahrheit ein riesiger Friedhof. Warum hat man die Stätte nicht zu einem Friedhof gemacht, um die Toten zu ehren?“ Eine sensibel vorgetragene Frage, die einen Kern trifft. Frau Oleksy hat Mühe, halbwegs plausibel zu antworten. Denn in der Tat: Der Rummel, der die Massenattraktion Auschwitz-Birkenau heute kennzeichnet, kann mit Gedenken und Trauern nicht viel zu tun haben. Es wirkt angesichts der Faktenmenge, die soeben ausgebreitet wurde, fast erlösend, als einer der Muslime vorprescht und autoritativ verkündet: „Wir wollen jetzt eine Minute der Stille.“
Nach dieser Minute beginnt der Rundgang, erst durch das kleine Lager Auschwitz, dann durch das große Lager Birkenau mit den zwei 1945 gesprengten und seitdem als Ruinen daliegenden Krematorien II und III. Es gibt Dinge zu sehen, die niemanden unberührt lassen können: eine riesige Vitrine, hinter der ein Berg aus Prothesen liegt, die einst die Todgeweihten ablegen mussten. Oder Vitrinen, in denen nur Bürsten, nur Kämme, nur Schuhe, nur Schüsseln und Nachttöpfe, nur Kinderkleider und -schuhe zu sehen sind. Stumme Zeugen einer unendlichen Verlassenheit. Hier, wo es ganz nah an die grausamen Schicksale geht und eine Vergangenheit dinglich sichtbar wird, erfasst manchen der amerikanischen Muslime das ganze Elend dieses anus mundi, dieser gottverlassenen Schädelstätte. Mancher weint, es hat nichts Theatralisches.
Diese Gedenkstätte verhindert Gedenken, erschwert es zumindest beträchtlich. An diesem sonnigen Augusttag hat das Lager in fast allen Winkeln etwas – man kann es nicht anders sagen – Idyllisches. Tiefgrüne Bäume säumen die Wege, Besuchergruppen kommen um die Ecke und entschwinden wieder. Vielerorts zwischen den Baracken und Häusern ist das Gras frisch gemäht, es duftet nach Heu, die spuren des Rasenmähers zeichnen sich auf dem adretten Grün ab. Nebendran steht eine der riesigen steinernen Walzen, die einst die ausgemergelten Häftlinge beim Straßenbau schleppen mussten – hier wirkt sie fast wie eines jener Relikte alter Handwerkskunst, mit denen in Deutschland gerne die Vorgärten von Ferienhäusern drapiert werden.
Auf den Gleisen, die in Birkenau zur Rampe führen, schlendern junge Leute, eine Mutter ruft ihr schreiendes Kind zur Ordnung. Es sind zu viele Menschen da, als dass Ergriffenheit um sich greifen könnte. Auschwitz ist, leider, auch ein großer Rummelplatz. Und so gelten hier die Gesetze des Rummels, der Touristenattraktion. Alle erkunden möglichst alle Ecken und Winkel. In der Gaskammer herrscht nüchternes Interesse. Und als die Gruppe den Weg geht, den vor 65 Jahren jene gingen, die an der Rampe aussortiert wurden und sofort in die Gaskammer geschickt wurden – da hat sie ob der Informationsflut eben das schon wieder vergessen und läuft hier, wie sie auf jedem anderen Weg auch laufen würde.
Rabbi Jack Bemporad, 77 Jahre alt und aus New Jersey, begleitet die muslimische Gruppe. Er redet gerne, hier im Lager will er aber nur die Eindrücke wirken lassen, daher hält er sich im Hintergrund. Am Rande gibt er dem Krakauer Fernsehen ein Interview. Er erklärt, dass es sich hier um moderate Muslime handelt. „Ich will sie nichts lehren“, sagt er, „sie sollen selbst sehen und bezeugen.“ Mit melancholischem Blick, der gleichwohl nichts Resigniertes hat, spricht er von dem Rätsel, das Auschwitz auf immer bleiben werde. Selbst hier will er nicht ganz von dem Ton leicht ironischen Understatements lassen, den er schätzt und der seinen neuen muslimischen Freunden weithin abgeht. „Ich hoffe“, spricht er in die Kamera, „dass wir hier lernen, was immer hier zu lernen sein mag“ – keine Gewissheit, nur eine Chance. Und dann wird er doch sehr emphatisch. „You can’t come here without having your mind changed.“
Haben die gut meinenden Muslime, die sich zu dieser für ihre Community skandalösen Reise entschlossen haben, ihren Sinn geändert?
An der – rekonstruierten – Erschießungswand legen sie einen Kranz nieder, und Imam Siddiqi hält eine kurze Ansprache, in der er schnell den Weg von der großen Trauer zur großen Hoffnung durchmisst. Die Gruppe, vorher in die Materie eingeführt, ist erschrocken und sprachlos über das Ausmaß der Barbarei, die hier wütete. Mehrfach entrollen Mitglieder der Gruppe ihren Gebetsteppich und gedenken der Ermordeten: eine Geste zwar ritualisierter, aber doch sehr sichtbarer Anteilnahme, wie man sie in Europa kaum noch kennt.
Was bleibt hängen? Schwer zu sagen. Wenn muslimische, jüdische und christliche Brüder und Schwestern auf diese Art zusammenkommen, herrscht immer der gute Geist der Versöhnung. Es sieht so schön aus, wie sie alle übergreifend zusammensitzen. Und doch hat es etwas Irreales. Denn der Alltag ist fern, Versöhnungstreffen sind Sonntagstreffen, Poesie, nicht Prosa. Ganz deutlich wird das zum Abschluss. Nach der Rückfahrt durch die wellige polnische Landschaft empfängt in Krakau Erzbischof Stanislaw Kardinal Dziwisz, früher der engste Berater von Papst Johannes Paul II., die Gruppe.
Was als Dialog zwischen den Religionen angekündigt worden war, fällt kurz aus. Dziwisz hält auf English einen kleinen Vortrag über die Notwendigkeit des interreligiösen Dialogs – gerade an diesem Ort, wo ein Ort des Schreckens so nahe liege. Er bleibt allgemein, und allgemein bleiben auch Imam Siddiqi und Rabbi Bemporad, die in geübten Worten entgegnen. Man ist sich einig, der Dialog ist vorbei, bevor er hätte beginnen können. Dann gibt es Häppchen und Erdbeeren. Und einer der Muslime fragt seinen europäischen Gesprächspartner: „So schlimm der Holocaust auch ist – ist nicht die Situation der Palästinenser heute der der Juden von damals irgendwie ähnlich?“ Der Weg wird noch lang sein.
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