A Frightened Superpower

<--

“American Angst” – eine Supermacht fürchtet sich

Von Ansgar Graw

|10.10.10

9/11, Wirtschaftskrise, China: Die Amerikaner haben Angst – und ihr Pioniergeist scheint erstmals an seine Grenzen zu stoßen.

Lange Zeit spöttelte man im angelsächsischen Sprachraum über die deutsche Angst. Vor Jahrzehnten ging es um die Furcht in der alten Bundesrepublik vor den Atomwaffen der Sowjetunion und, mehr noch, vor der Nachrüstung des eigenen Bündnispartners USA. Später ängstigten neue Eiszeit, saurer Regen, Waldsterben. Kernkraft oder Treibhauseffekt die Deutschen. Die „German Angst“ hielt als Synonym für das Grübeln und Zweifeln der Deutschen Einzug in den amerikanischen Sprachgebrauch.

Doch seit einigen Jahren hat sich der Begriff „Angst“ fast unbemerkt emanzipiert vom Zusatz „German“. Die Bewältigung der deutschen Einheit, Ansätze zur Reform der Sozialsysteme und der Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan vertrugen sich offenkundig nicht länger mit dem Stereotyp der – laut Hölderlin – gedankenvollen, aber tatenarmen Deutschen.

“Die Chinesen wollen die Welt erobern.”

Dafür hat sich inzwischen eine Unsicherheit in den USA ausgebreitet, die so ganz und gar nicht zum Auftritt der Supermacht im 20. Jahrhundert passt. Amerikaner haben Angst. Nicht nur vor Terroristen. Sondern auch vor dem Islam und vor Moscheen, egal ob nahe Ground Zero oder in der Provinz Tennessees. Vor der Scharia, die jene gerade einmal zwei Prozent muslimischer Amerikaner vermeintlich an die Stelle der Verfassung setzen wollen. Vor Indien, dem Freihandel und vor allem vor China. „Der Staubsauger ist ‚Made in China‘ und die Mikrowelle und, ja, die Kaffeemaschine auch“, seufzt der Verkäufer bei Sears. „Die Chinesen wollen die Welt erobern. Hoffentlich erlebe ich das nicht mehr.“

Amerikaner haben Angst, dass sich die Vereinten Nationen in ihre Belange einmischen. Dass die Europäer, die Deutschen voran, zu viel exportieren. Amerikaner haben Angst vor illegalen Einwanderern und vor der Wall Street. Vor Big Government und einem Staat, der sie nicht schützt. Vor „Change“ und Stillstand. Vor noch mehr Obama und vor einer Rückkehr zu Bush.

Rückschläge hat es für die USA bislang immer gegeben

In den verzagten Debatten der gegenwärtigen USA erinnert wenig an jene Vereinigten Staaten, die in zwei Weltkriegen siegten. Die die Sowjetunion im Kalten Krieg aufrieben. Die Menschen zum Mond schickten und dem Internet, dem Schrittmacher der digitalen Revolution, den Weg ebneten.

Dass die USA bei den Versuchen scheiterten, Demokratie in den Irak und nach Afghanistan zu exportieren, waren Rückschläge. Aber Niederlagen gab es auch in früheren Dekaden. Der Sputnik-Schock und Juri Gagarins Weltraumfahrt in den 50er- und 60er-Jahren schienen die Überlegenheit des Kommunismus über den Kapitalismus zu beweisen. Anstatt sich paralysieren zu lassen, starteten die USA das Apollo-Programm. Weder die Niederlage in Vietnam noch die demütigende Besetzung der US-Botschaft im Iran stürzte das amerikanische Volk in einen posttraumatischen Seelentaumel. Aus jeder Krise, bis hin zu „9/11“, erwuchs neue Vitalität.

Anrufer werden gefragt, ob sie Englisch oder Spanisch sprechen

Was ist da jetzt anders? Warum wirken die Amerikaner, die doch laut Robert Kagan vom Mars kommen, heute vielfach weinerlicher als die Europäer, die der US-Historiker der Venus zuordnete? Liegt es an der Weltfinanzkrise, die den Glauben an endloses Wachstum zerstörte? An der fortschreitenden Diversifizierung der Gesellschaft? Wer Behörden oder Firmen anruft, wird von Telefonautomaten regelmäßig gefragt, ob er Englisch oder Spanisch spreche.

Wo, sorgen sich viele Bürger, bleibt da das „richtige Amerika“? Und die Tea Party, die aus der Sehnsucht der Konservativen nach alter Übersichtlichkeit entstand, ängstigt wiederum jene Modernisierer, denen Reformen zu langsam gehen.

Der “richtige Amerikaner” ist kaum noch zu finden

Der „richtige Amerikaner“ ist in der Patchwork-Nation der USA kaum zu finden. Aber es gibt so etwas wie den Durchschnittsamerikaner, und dessen hervorstechende Eigenschaft war stets der Optimismus. Selbst der Traditionalist blickte in den USA häufiger nach vorne als zurück. Gegenwärtig jedoch erschüttern die eigene ökonomische Schwäche und das Aufkommen neuer Mächte vor allem in Asien den Glauben vieler Amerikaner an das Morgen. Der amerikanische Pioniergeist scheint erstmals an seine Grenzen gestoßen, geografisch, im Weltenraum, ökonomisch, ideell.

Die USA brauchen neue Ziele. Um vom Konsumgiganten wieder zum Exportland zu werden. Um Arbeitsplätze etwa bei erneuerbaren Energien zu schaffen. Um die Integrationskraft der Supermacht gegenüber Hispanics und Muslimen herzustellen. Die Aufgabe ist schwer. Sie muss gelöst werden, um – auch im Interesse Europas – „the American Angst“ zu überwinden.

About this publication