America without the Shackles of Fear

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Amerika ohne Angstfesseln

Von Dietmar Ostermann

31.10.2010

In einem Punkt hat US-Präsident Barack Obama ganze Arbeit geleistet: Die amerikanische Gesellschaft geht inzwischen rationaler mit den realen Terrorgefahren um.

Dietmar Ostermann Korrespondent Frankfurter Rundschau in Washington.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die in Frachtflugzeugen in Großbritannien und Dubai gefundenen Paketbomben auf die Reise in die USA geschickt wurden, um kurz vor der amerikanischen Kongresswahl am Dienstag ein Thema in Erinnerung zu rufen, das man dort fast schon vergessen hatte. Im aktuellen US-Wahlkampf spielt die Terrorangst kaum noch eine Rolle. Dort geht es um wirtschaftliche Sorgen, die hohe Arbeitslosigkeit, die Furcht vor einem dauerhaften Niedergang Amerikas. Es geht um die Rolle des Staates in der US-Gesellschaft und deren soziale Justierung. Kurz: Amerika beschäftigt sich mit sich selbst, es blickt nach innen.

Im vergangenen Jahrzehnt war das oft anders. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 war der „Kampf gegen den Terror“ zwischen New York und San Francisco lange das beherrschende Thema. Zwei Kriege haben die USA in seinem Namen geführt, in Afghanistan und im Irak. Ob das richtig war oder nicht, ob Guantánamo und Folter sein mussten oder nie hätten sein dürfen – darüber wurde leidenschaftlich gestritten. Noch vor zwei Jahren bei der Präsidentschaftswahl waren all das wichtige Themen, auch wenn Rezession und Finanzkrise sie schon damals in den Hintergrund drängten. Doch Barack Obamas kometenhafter Aufstieg war nur zu verstehen vor dem Hintergrund seiner Haltung zum Irakkrieg, den er früher als andere kritisierte. Viele in den USA verstanden seinen Triumph 2008 nicht bloß deshalb als Zäsur, weil zum ersten Mal ein schwarzer Präsident ins Weiße Haus einzog. Amerika schien sich endgültig aus der Angststarre nach 9/11 zu lösen.

Wie immer man nach zwei Jahren die durchwachsene Bilanz des 44. Präsidenten der USA bewerten mag: In diesem Punkt hat Obama ganze Arbeit geleistet. Gewiss, die Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo Bay ist auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben, weil sich das juristische Knäuel nach jahrelanger Willkürhaft nicht so einfach auflösen ließ, wie Obama hoffte. Und ja, Amerika geht weiter aggressiv und mit fragwürdigen Methoden gegen Al-Kaida und andere Terrorgruppen vor. Washington macht mit Raketen und CIA-Kommandos weiter Jagd auf seine Feinde.

Doch im amerikanischen Bewusstsein hat ein Wandel stattgefunden. Der Umgang mit der unverändert sehr realen Terrorgefahr wurde rationaler. Es geht in Washington in der Sicherheitspolitik heute um konkreten Schutz gegen konkrete Bedrohungen. Der eingeleitete Rückzug aus dem Irak, wo Al-Kaida erst seit dem US-Einmarsch 2003 sein Unwesen trieb, ist weitgehend unumstritten. Dass dies die falsche Front war, sieht inzwischen eine große Mehrheit der US-Bürger wie ihr Präsident. Auch über den Militäreinsatz in Afghanistan wird offen diskutiert: Welche Rolle das Land am Hindukusch tatsächlich als Terrorbasis spielt, ob die Gefahren nicht anderswo längst größer sind – solche Fragen sind nicht mehr tabu. Sie werden im Weißen Haus ebenso gestellt wie in den unterschiedlichen Think Tanks. Von den Denkblockaden jener Tage, als die Terrorgefahr zur existenziellen Bedrohung überhöht und politisch instrumentalisiert wurde, sind die USA heute weit entfernt. Es reicht nicht mehr, Osama bin Laden in eine Reihe mit Hitler und Lenin zu stellen, um Amerika auf Kriegskurs zu zwingen.

Dies ist auch das Verdienst einer unaufgeregten Anti-Terror-Politik der Regierung Obama. Die schwierige Balance zwischen Wachsamkeit und Panikmache fiel auch diesem Präsidenten nicht immer leicht. Nach dem versuchten Anschlag auf ein Flugzeug im Dezember über Detroit wurde Obama kritisiert, weil er drei Tage im Urlaub auf Hawaii zu dem Vorfall schwieg. Diesmal trat er früh vor die Kameras, ohne in Alarmismus zu verfallen.

Dass die USA zuletzt mehrfach einfach Glück hatten, weiß man im Weißen Haus. Die Bombe in der Unterhose des Nigerianers Umar Farouk Abdulmutallab explodierte nicht Weihnachten über Detroit, auch nicht die Autobombe im Mai auf New Yorks Times Square. Auch jetzt hätten die Paketbomben ohne die Warnung des saudischen Geheimdienstes ihr Ziel in den USA vielleicht erreicht. Die psychologische Wirkung eines erfolgreichen Anschlags selbst mit vergleichsweise geringen Folgen möchte man sich nicht ausmalen. Doch wenn Terroristen jetzt in immer kürzeren Abständen wieder die USA – und womöglich Europa – ins Visier nehmen, muss das nicht heißen, dass die Terrorgefahr wächst. Womöglich sehnt sich manch Dschihadist einfach nach den guten alten Tagen, in denen er die ganze Welt furchtsam in Atem hielt.

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