Mit Kanonen und Paragraphen
Ein Internetaktivist mit zweifelhaften Motiven ist unter den Nachstellungen Washingtons zum Märtyrer aufgestiegen: Bislang reagierte Amerika vor allem mit starken Worten auf die Veröffentlichungen von Wikileaks. Gesucht wird nach Wegen, Julian Assange den Prozess zu machen.
Der zuweilen gehässige Parteienzwist in Washington erreicht die amerikanische Diplomatie und schon gar die Streitkräfte nur selten: Daheim mögen Republikaner und Demokraten nach Kräften zanken, doch draußen in der Welt ziehen Amerikas Diplomaten und Soldaten in aller Regel mit vereinten Kräften an einem Strang. Diese „muskulöse“ Außen- und Sicherheitspolitik, mittels welcher die Vereinigten Staaten in aller Welt ihre nationalen Interessen verfolgen, erbringt meist das erwünschte Ergebnis: Die junge Nation Amerika wurde stark und immer stärker und ist auch heute noch lange nicht schwach.
Im Streit um die Veröffentlichung klassifizierter und vertraulicher Informationen des Pentagons und des State Departments durch die Enthüllungs-Internetseite Wikileaks hat der von regierenden Demokraten wie oppositionellen Republikanern gleichermaßen getragene Kampf gegen den australischen Wikileaks-Chef Julian Assange die Position Washingtons aber deutlich geschwächt.
Bisherige Strategie fehlgeschlagen
Inzwischen ist es Konsens unter amerikanischen Kommentatoren, dass die heftige Reaktion Washingtons auf die Enthüllung der Feldberichte und Depeschen durch Wikileaks mehr Schaden angerichtet hat als der Inhalt der geheimen und vertraulichen Berichte selbst. Ein Internetaktivist mit zweifelhaften Motiven ist unter den Nachstellungen Washingtons zum amtierenden Märtyrer des Internetzeitalters aufgestiegen, während das von Präsident Barack Obama gerade erst aufpolierte „Imperium“ wieder seine hässlichste Fratze zeigt. Dazu passen schrille Forderungen derangierter Politiker und Publizisten, Assange als Terroristen zu verfolgen oder ihn kurzerhand umbringen zu lassen.
Manches spricht dafür, dass die Regierung inzwischen erkannt hat, dass sie mit ihrer bisherigen Strategie im Kampf gegen Assange und Wikileaks nichts erreicht. Wenn das State Department die Kreditkartenunternehmen Mastercard und Visa, die Bezahlungsplattform Paypal und den Internethändler Amazon sowie Banken offenbar dazu bringt, die Geschäftsbeziehungen zu Wikileaks und Assange abzubrechen, dann ergreift das globale Publikum naturgemäß Partei für David und gegen Goliath.
Prozess gegen die mutmaßliche Quelle steht noch aus
Hinzu kommt, dass selbst die mutmaßliche Quelle der von Wikileaks veröffentlichten Informationen bisher als unschuldig gelten muss, weil der Prozess gegen ihn erst im Frühjahr beginnt. Der 22 Jahre alte Heeres-Obergefreite Bradley Manning, der als Angehöriger einer Aufklärungseinheit von Mitte 2009 an im Irak über Dienstcomputer Zugang zu den klassifizierten Informationen des Verteidigungs- und des Außenministeriums hatte und diese in großen Mengen heruntergeladen haben soll, wartet seit Juli im Gefängnis des Marinekorps in Quantico im Bundesstaat Virginia auf seinen Prozess vor einem Militärgericht.
Die Anklage lautet auf Geheimnisverrat und unerlaubtes Kopieren geheimer Informationen. Manning, der von einem Pflichtanwalt des Heeres verteidigt wird, verweigert die Aussage und kooperiert bislang nicht mit den Ermittlern des Militärs. Ihm drohen bis zu 52 Jahre Haft. (Siehe auch: Wikileaks: Der perfekte Sturm eines Obergefreiten)
Zum Geheimnisverrat angestiftet?
Am Donnerstag beriet der Justizausschuss des Repräsentantenhauses über den Fall Wikileaks. Justizminister Eric Holder und seine Ermittler zerbrechen sich seit Wochen den Kopf darüber, wie man Assange und Wikileaks juristisch belangen könnte. Grundlage für eine mögliche Anklage wären das Spionagegesetz von 1917 und das Computerbetrugsgesetz von 1986.
Während Verrat oder Diebstahl geheimer Informationen bestraft werden können, ist die Verbreitung solcher zugespielten Dokumente durch die Medien aber durch den Ersten Verfassungszusatz zur Rede- und Pressefreiheit geschützt: Kein Journalist wurde je auf Grundlage des „Espionage Act“ von 1917 verfolgt.
Deshalb versuchen Holders Ermittler nachzuweisen, dass Assange Manning in direkter Kommunikation zum Geheimnisverrat angestiftet und diesen mittels technischer Hilfsmittel ermöglicht hat; dass Assange also Mitverschwörer ist – anders als die Zeitungen und Zeitschriften, die dann unter dem Verfassungsschutzschirm der Pressefreiheit die von Wikileaks zugespielten Dokumente veröffentlichten.
Wikileaks hat unterdessen präventiv die Einträge auf seiner Website so geändert, dass nicht mehr zur Übergabe geheimer und vertraulicher Informationen ermuntert wird. Die Mitarbeiter der Website werden jetzt zudem als „Journalisten“ bezeichnet, die „Nachrichten“ verbreiten statt geheimer Informationen. Amerikanische Medien berichteten am Donnerstag unter Berufung aus Informationen aus dem Justizministerium, dass eine Anklage gegen Assange wegen Verschwörung bevorstehe. Das wäre der Beginn eines langen und schwierigen, aber ordentlichen und fairen Prozesses. Diese Verfahren aber wäre für Washington, anders als das politische Dauerkanonenfeuer gegen Assange, nicht von vornherein ein hoffnungsloses Unterfangen.
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