.Die Hysterie der Enthüllten ist das wahre Problem
Von Ulrich Clauß
22.12.2010
Wikileaks schadet der Pressefreiheit nicht. Es ist die Kopflosigkeit und Hysterie der peinlich ertappten Mächtigen, um die wir uns sorgen müssen.
Es ist wie beim Theater. Der Skandal beginnt erst richtig, wenn ihn die Direktion für beendet erklärt hat. Was war denn eigentlich passiert? Da erscheinen hunderttausende von Botschafterdepeschen auf bislang in der freien Welt als Innovation geschätzten Enthüllungsplattform Wikileaks, die von einem subalternen Mitarbeiter aus dem ganz offenbar dilettantisch abgesicherten Büro-System der US-Administration kopiert werden konnten.
Angekündigt als eine Grundsee der digitalen Moderne entpuppte sich der Gehalt sehr bald als Rinnsaal mittel-peinlicher Details. Jedenfalls bei weitem nicht so peinlich, wie die Umstände der Indiskretion selbst – zum Beispiel, dass sie überhaupt möglich war. Ein paar Dutzend Botschafter sitzen mit roten Ohren in ihren Büros und auf den Sofas der Gastländer, weil sie auf Schleichfahrt in befreundeten Gewässern erwischt wurden.
Keine neuen Erkenntnisse
Und große sowie gernegroße Stadttheaterintriganten vom Stamme Lukaschenko, Berlusconi, Putin, Chavez und sogar der allzeit beidschultrig tragende kleine Gregor kommen ins Stammeln, weil jedermann die Linien ihrer Wühlarbeit zwischen den aufgeworfenen Hügeln nachzeichnen kann. Zurück bleibt die Erkenntnis, dass es praktisch nichts gibt, was man nicht schon vorher wusste oder zumindest wissen konnte.
Das aber stellt den als Dino-TV und Holz-Presse gescholtenen “alten“ Medien ein doch gar nicht so schlechtes Zeugnis aus. So ungründlich kann da ja wohl nicht gearbeitet worden sein, wenn der größte „leak“ der Mediengeschichte so gar nichts Grundstürzendes zu Tage fördern konnte.
Enthüllungen sollten nicht zu Aufregung führen
Selbst die Vorstellung, dass Wikileaks – wie angekündigt – mit noch größeren Kaliber nun das Finanzwesen mit Enthüllungen unter Feuer nimmt, kann doch weder Opfer noch Täter ernsthaft in Aufregung versetzen. Was soll denn da noch kommen? Dass eine internationale Großbank fortgesetzte Steuerflucht-Expertise leistet?
Dass in der Sondergalaxis der Handelsräume mitunter weitgehend moral- und skrupelfrei die eine Hälfte der Welt gegen die andere verwettet wird? Und dass Politik auch aus dem täglichen Kampf gegen die Kräfte besteht, die ihren Vertretern und der ganzen freien Welt das Überleben in Wohlstand und Freiheit garantieren?
Es gibt keinen Grund zur Panik
Dass der „Markt“ auch ein Mysterium sein kann und Zauberlehrlinge verführt? Mit Verlaub, das stand doch alles in der Zeitung – as seen on TV. Wo also ist ein Grund zur Panik? Die Drohung einer Ausweitung der Wikileaks-Kommandos erscheint wenig glaubhaft. Gibt es nicht eher Gründe für Erleichterung? Ja, Einerseits.
Dann aber schlägt die Macht im Zeichen ihrer Hybris zu. Es entwickelt sich eine Art Spiel kommunizierender Neurosen: Hier ein mutmaßlich von einer Art Aufklärungsfundamentalismus Besessener, dort die Großmacht der freien Welt, deren Armeeangehörige inklusive Diplomatiestudiengängen nun auf einmal die New York Times nicht mehr lesen dürfen.
Assange auf einer Stufe mit Jack the Ripper
Und das bislang als Bullerbü-Idyll und bürgerrechtsbewegte Kuschel-Gemeinwesen in Europas Norden steht im Geruch putativer Rechtsbeugung. Bislang jedenfalls liegt kein einziges Stück Papier einer Anklageschrift vor, auf Grund deren die schwedische Strafjustiz Julian Assange international nachstellt.
Dieser aber – Sittenstrolch oder auch nicht – singt im halboffenen Vollzug britischer Rechtspflege das hohe Lied auf den europäischen Justizpluralismus und erscheint als Wanted Man in einer Reihe mit pakistanischen Atomwaffen-Dieben und Jack the Ripper. Geht es nicht eine Nummer kleiner? Nein, im Gegenteil, die Nummer wird immer größer.
Pressefreiheit in Gefahr
Weniger um Julian Assange als um die Pressefreiheit muss man sich sorgen, die er auf den Prüfstand gestellt hat – und zwar nicht durch den Inhalt der Wikileaks-Enthüllung sondern durch die damit provozierten Hysterien der Enthüllten. Es mag ja sein, dass man sich unbequem fühlt, wenn man von einen zusammengewürfelten Haufen freiwilliger Info-Netzwerker in Unterhosen dasteht.
Aber darf man deswegen die Nerven verlieren? Und wie aber würde der Gegenschlag der Macht, ihr Verlust von Selbstkontrolle, ausschauen, wenn auch nur ein einziges schwergewichtiges Staatsgeheimnis tatsächlich enthüllt worden wäre? Wenn sich durch die Wikileaks-Veröffentlichungen tatsächlich Fragen nach den demokratischen Fundamenten der westlichen Supermacht USA gestellt hätten?
Wir wollen keine Gegenreaktionen sehen
Es ist das Wesen der Aufklärung, dass sie gerade ihre mächtigsten Vertreter mit den unangenehmsten Fragen konfrontieren muss. Ganz zuvorderst eben mit der Frage, wie man es denn selbst mit der Aufklärung und ihren Usancen so zu halten gedenkt – dann, wenn es (und sei es nur ein bisschen) wehtut.
Das Rückschlagspotential, dass sich hinter dem Wikileaks-Coup und seinen Weiterungen auftut, erscheint immens und unwägbar. Und das ganze Ausmaß – oder sollte man sagen die ganze Maßlosigkeit? – der möglichen Gegenreaktionen haben wir noch nicht gesehen. Und wir sollten das auch nicht sehen wollen, bei aller Liebe zur Enthüllung.
Kein Grund für eine Notstandgesetzgebung
Und wer die technische Moderne und ihre von eben auch durchaus merkwürdigen Protagonisten gebohrten Schlupflöcher à la Wikileaks zur digitalen Apokalypse hochstilisiert, macht sich um Aufklärung gerade nicht verdient. Es gibt auch keinen Grund für eine informationelle Notstandgesetzgebung, die in dem Fall gelten sollte, dass jemand sich nicht an all jene Regeln hält, die exekutiv denkend und Handelnden nun mal am Herzen liegen müssen.
Anlässlich eines zum derzeitigen Haupt- und Staatsverräter-Hype um Wikileaks als trivial erscheinenden Vorkommnisses fiel vor Jahren ein bemerkenswerter Satz. Es ging dabei immerhin um den weltweiten Ruin der Musikindustrie infolge des digitalen Raubkopierens urheberrechtlich geschützter Musikware
Füße still halten
Es war der Vorschein alles Kommenden, was die technische Ermächtigung gut oder wohl meinenden Regelverletzern an die Hand gibt. „Wer die Tür offen steht lässt, der muss sich nicht über Ladendiebe wundern“, sagt die ehemalige Justizministerin Brigitte Zypries, als sie von Industrievertretern bestürmt wurde, die gesamte Rechtsstaats-Kavallerie ausreiten zu lassen Sondermaßregelungen zu treffen zum Schutze der Plattenfirmen.
So einfach kann der Fortschritt sein. Tür zu halten und die Füße still. Kein schlechter Rat in dieser Zeit. Da wird aus einem mutmaßlichen Schamverletzer auch kein Volksheld. Und aus einer Enthüllungsplattform keine Befreiungstheologie. Und aus der Administration einer Supermacht keine Versammlung von Nervenbündeln.
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