Everybody Loves the Treason; Nobody Loves the Traitor

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Alle lieben den Verrat, niemand den Verräter

Von Ulrich Clauß

7.3.2011

Die Öffentlichkeit verlangt nach unbefleckten Erlösergestalten. Als solche kann Assange nicht dienen – dafür sollten wir nicht ihn verantwortlich machen.

Die Geschichte ist oft ungerecht. Nicht selten stellt sie die Stifter großer Projekte vor Anforderungen und Erwartungen, denen diese gar nicht gerecht werden können. So ist es wohl auch Julian Assange ergangen. Als Erfinder und Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks wurde er zu einer Art Übermenschgestalt der digitalen Informationsgesellschaft. Der Glanz und die politische Wirkmacht dieses Projekts sorgten für den kometenhaften Aufstieg seiner Person bis auf die Titelseiten der Weltpresse. Ein Held der Informationsfreiheit im Zeitalter des Internets ist er für die einen, Staatsfeind Nummer eins und Landesverräter für die anderen – auch im freien Teil der Welt.

Die alte Weisheit, dass alle den Verrat lieben, aber niemand den Verräter, hat sich auch für Julian Assange bewahrheitet – wenn auch auf ganz besondere Weise. Und das, obwohl er wie kaum jemand vor ihm all den Freiheitssehnsüchten bis hin zu den Erlösungserwartungen, die sich mit der weltweiten Vernetzung aller Menschen über das Internet verbinden, einen Namen und ein Gesicht gab. Seinen Name und seine Stimme. Und wie kaum ein anderer forderte er dabei durch die Veröffentlichungspolitik von Wikileaks die Mächtigen der Welt heraus.

Viel Feind, viel Ehr – wohl wahr. Aber der Preis dafür war hoch. Seine mitunter selbstherrlichen Auftritte kosteten ihn viel Sympathie, selbst seinen glühendsten Verehrern und Sympathisanten hat er es dabei nicht immer leicht gemacht. Dass Julian Assange sein persönliches Schicksal mit dem von ihm so unerbittlich proklamierten Recht auf Informationsfreiheit auf der gesamten Welt verknüpfte, sorgte für heftige Kritik und spaltete seine Organisation.

Der öffentliche Eindruck, den Assange bei all dem gemacht hat, wurde vor allem geprägt durch den höchst kontroversen Charakter seines Projekts und den Schlagschatten, den die mediale Ausleuchtung seines ungeheuerlichen Vorhabens auf die Person Assange warf. Befördert wurde diese Mediengeburt eines doppelköpfigen Heroenwesens durch eine Voraussetzung, die für das Funktionieren von Wikileaks unabdingbar war: die vollständige und aufwendig beschützte Anonymität all seiner Protagonisten. Organisations- und Informantenschutz machten die Verdunkelung des Wikileaks-Netzwerks und der Identitäten seiner Mitarbeiter zur absoluten Bedingung. Die im Dunkeln darf man nicht erkennen, damit steht und fällt die Aufklärungsphilosophie von Wikileaks. In umso grellerem Licht und ohne Grautöne erscheint Assange als lebendes Freibeuterdenkmal der neuen Medienwelten. Und wenn ein Informant ins Licht der Scheinwerfer geriet, wie bei den durchgestochenen US-Botschaftsdepeschen, stellte sich sofort die Legitimationsfrage für das gesamte Projekt. Auch wenn in diesem Fall Wikileaks kaum ein Vorwurf zu machen war.

Vor allem ein Umstand sorgte dafür, dass das öffentliche Erscheinungsbild von Assange zur messianischen Schablone geriet. Es geht dabei um die persönlichen Voraussetzungen, die einer mitbringen muss, der sich systematisch alle Mächtigen dieser Erde zum Feind zu machen bereit ist. Und das meint eben nicht nur die Dunkelmänner aller Herren Länder, sondern auch die Führungen der freiheitlichen Gesellschaften. Aus Versehen gerät niemand in die Gefahr solcher Außenseiterstellung, ja, Verlorenheit. Jedenfalls niemand mit den intellektuellen Gaben, über die Julian Assange verfügt.

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Und es fällt nicht schwer, in der Biografie von Assange Anhaltspunkte dafür zu finden, dass eben jene Einsamkeit und Bindungsferne, in die derjenige geraten muss, der ein solches Berufsrisiko eingeht, ihm auch vor Wikileaks schon ständige Begleitung waren. Julian Assange gibt es also nicht als „Wünsch dir was“-Vexierbild. Das eine gehört zum anderen. Nur die Gesamtheit aller Facetten seiner Person konnte ihn zum Frontmann dieses medienpolitischen Himmelfahrtskommandos werden lassen. Damit kein Missverständnis entsteht: Niemand kann Assange davor schützen, Rechenschaft ablegen zu müssen über private Verfehlungen. Der Vergewaltigungsvorwurf der schwedischen Strafverfolgungsbehörden gehört aufgeklärt. Nach Recht und Gesetz. Nach welchem Recht das geschieht, ist eine andere Frage. Das schwedische gilt bezüglich der Tatdefinition bei sexueller Gewalt als rigoros. Jedenfalls aber schützt auch eine noch so bizarre Genialität vor Strafe nicht.

Wer Assange aber aus seiner Verschwörungs-Paranoia, seiner fast verbohrt wirkenden Staatsgegnerschaft und den Zügen von Größenwahn einen Strick drehen will, der sollte Folgendes zur Kenntnis nehmen: Ohne diese außergewöhnliche Persönlichkeitsmixtur als Umgebungsbedingung wäre Wikileaks nicht entstanden. „You can’t build a fire in the rain“ – im Regen kann man kein Feuer machen, lautet eine alte Indianer-Weisheit.

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In den Stammlanden der Indianer ist man sich offenbar auch nicht ganz sicher, was von Wikileaks zu halten ist. Führende Politiker der USA möchten Killer-Kommandos auf Assange ansetzen wegen der Veröffentlichung der US-Botschafterdepeschen und der Iran-Kriegs-Videos. Die „New York Times“, die Wikileaks-Material auch veröffentlichte, bleibt von dergleichen Androhungen verschont. Warum?

Julian Assange und seine Helfer haben mit Wikileaks weltweit eine Diskussion über Informationsfreiheit und die Legitimität jedweder Geheimhaltung im Zeitalter digitaler Medien entfesselt. Das ist eine notwendige Diskussion, die ebenso notwendigerweise ohne Übertreibungen und extreme Positionen nicht zu führen ist. Viele althergebrachte Sichtweisen auf die Rolle der Medien sind durch das Internet massiv infrage gestellt. Produktion und Verteilung von Information erscheinen in jeder Gesellschaftsform in neuem Licht. Fragen der Legitimation stellen sich völlig neu. Diese Diskussion ist auch deshalb unumgänglich, weil jedes Zeitalter im Rahmen seiner immer neuen medialen Möglichkeiten den Freiheitsbegriff neu mit Leben füllen muss. Das muss unbequem, ja auch verstörend sein – für jede Form der politischen Herrschaft.

Wikileaks hat gezeigt, welche ungeheuren Möglichkeiten der Transparenz und Teilhabe in den weltweit vernetzten, jedermann zugänglichen digitalen Medien stecken. Damit haben Assange und seine Mitstreiter sich um die Freiheit auf der ganzen Welt verdient gemacht.

Deshalb: Freies Geleit für Julian Assange und seine Leute.

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