Schadenfreudig sprechen manche Europäer vom Abstieg der USA. Sie sehen nur kurzfristige Entwicklungen, nicht langfristige Trends.
Es hat mannigfache Gründe, warum sich die Amerikaner beim derzeitigen Militäreinsatz in Libyen nicht in den Vordergrund drängten, sondern Franzosen und Briten den Vortritt ließen und dann auf die Führungsrolle der Nato drängten. Nicht zuletzt spielte dabei wohl auch Rücksicht auf das delikate amerikanisch-europäische Verhältnis eine Rolle. Gerade die europäische Wahrnehmung amerikanischer Macht ist doch so: Wenn die USA irgendwo intervenieren, sind sie in den Augen vieler Europäer sogleich imperialistische Kriegstreiber, die es nur auf die Ressourcen anderer Länder abgesehen haben; wenn sie sich aber zurückhaltend zeigen, militärisch in einem Konflikt zu intervenieren, heißt es wiederum sofort: Die Amis verraten ihre eigenen Ideale der Demokratie, der Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts etc.
Die Monatszeitschrift „Osteuropa“ widmet ihr neuestes Heft dem „Fixstern Amerika: Ideal und Illusion Mitteleuropas“. Die Mehrheit der Beiträge beleuchtet die Amerika-Bilder der Staaten Ostmitteleuropas, die sich während der Ära George W. Bush ziemlich scharf von der westeuropäischen Wahrnehmung der USA unterschieden. Aber: „Die Differenzen zwischen Ostmitteleuropa und Westeuropa nehmen ab. An die Stelle einer Idealisierung der USA rückt auch in Ostmitteleuropa zunehmend eine pragmatische Gewinn- und Verlustrechnung“, heißt es im Editorial zu dem Heft.
Der tschechische Kulturjournalist Petr Fischer beschreibt treffend die unterschiedlichen Wege von Amerikanern und Europäern: der gradlinige, pragmatische, nutzorientierte Weg der Amerikaner und der kurvige, verworrene, reflexive europäische Weg. Und: „Während die Europäer für alle Zeit die Last ihrer langen Geschichte […] mit sich herumtragen, können die Amerikaner ganz leicht und ohne viel Aufhebens alles abschütteln, was für sie vor ein paar Jahren noch ein gehüteter Schatz oder ein Lebenstrauma war.“
Eine Art Schizophrenie der Europäer ist auch: Einerseits haben sie das amerikanische Modell des Individualismus und des Strebens nach Glückseligkeit bereitwillig übernommen, andererseits kritisieren sie die USA gerade wegen dieses Modells immer wieder heftig, wird verächtlich auf diesen „Prototyp der Wegwerf- und Junkfood-Gesellschaft“ herabgesehen. Zugleich haben die Europäer nie ein eigenes, besseres Modell geliefert, wie Fischer festhält.
Der Augsburger Historiker Philipp Gassert wiederum rät im „Osteuropa“-Heft dringend, die in europäischen Intellektuellenkreisen geführte Diskussion über das „Ende des amerikanischen Jahrhunderts“ mit Vorsicht zu betrachten, denn da würden nur zu gern „kurzfristige Entwicklungen mit langfristigen Trends verwechselt“. Solche Trends sind für Gassert zum Beispiel, dass der Anteil der USA an der Weltwirtschaft seit den 1970er-Jahren stabil sei. Und: „Der kulturelle und politische Einfluss der USA in der Welt dürfte immer noch größer sein als während des Ost-West-Konfliktes, als er durch die sowjetische Hegemonie in ihrem Bereich begrenzt wurde.“ Nicht zu vergessen: Die Einwohnerzahl in den USA wächst weiter kräftig, während die Bevölkerung in allen anderen entwickelten Ländern wie auch in China langfristig stagnieren dürfte – Brasilien und Indien ausgenommen.
Gewiss, die Ära Bush junior verstörte viele Europäer, und auch manche Facetten der Obama-Präsidentschaft irritieren. Aber, und da hat Professor Gassert recht, in der historischen Langzeitanalyse sind die Bush-Jahre vermutlich nur Ausrutscher, wie es sie in Amerikas Weg durch die neuere Geschichte immer gegeben hat. Es ist töricht und zu früh, die Vereinigten Staaten abzuschreiben.
Leave a Reply
You must be logged in to post a comment.