Es geht um Politik, nicht um Werte
Von Franz Eder
27. April 2011, 18:28
Wikileaks-Veröffentlichungen geben den Blick frei auf die Vorgänge im US-Gefangenenlager Guantánamo. Dieses Kapitel sollte längst geschlossen sein, aber die Realpolitik verlangt ihren Tribut von Barack Obama.
Es war nicht nur ein symbolischer Akt, sondern ein erstes Zeichen, wie sich der neugewählte US-Präsident seinen vielbeschworenen Wandel vorstellte. Die Unterschrift Barack Obamas am ersten Tag nach seiner Amtseinführung unter eine Verfügung zur Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo wurde medial ausgeschlachtet.
Die Zeiten, in denen potenzielle Terroristen willkürlich verhaftet und unbegrenzt festgehalten werden konnten, in denen ihnen der Zugang zu ordentlichen Gerichten verwehrt und Folter als akzeptables Mittel nachrichtendienstlicher Informationsgewinnung angesehen wurde, sollten ein Ende finden. Umringt von ehemaligen Generälen verkündete Obama stolz und selbstbewusst, die letzten 245 Gefangenen nach einer raschen Überprüfung entweder freizulassen, sie in ihre Herkunftsländer oder vor ordentliche Gerichte in den USA zu bringen.
Es war ein Akt mit zweifacher Bedeutung: Die internationale Staatengemeinschaft, vor allem aber Amerika selbst sollte erkennen, dass Menschen- und Bürgerrechte und Werte wie Rechtsstaatlichkeit von einer der ältesten und standhaftesten westlichen Demokratien auch in sicherheitspolitisch schwierigen Zeiten hochgehalten werden.
Zwei Jahre nach dieser pompösen Ankündigung hat die Realität den Präsidenten aber längst eingeholt und die Grenzen und Schwächen Obamas, als auch seinen als “Kompromissfähigkeit” getarnten Opportunismus aufgezeigt. Die Enthüllungen von Wikileaks über das Gefangenensystem auf Kuba sind weniger spektakulär als vielerorts dargestellt. Dass viele der auf Guantánamo Festgehaltenen entweder unschuldig oder unter äußert fragwürdigen Anschuldigungen inhaftiert wurden, war ebenso bekannt wie die Anwendung von Folter bei Verhören.
Genauso wenig ist es ein Geheimnis, dass Washington eng mit Staaten wie China, Russland, Saudi-Arabien, Jordanien, Algerien oder Tunesien zusammengearbeitet hat (und es wohl immer noch tut), um in Kooperation mit deren “Verhörspezialisten” zu besseren Ergebnissen zu kommen. Selbst der Umstand, dass einige der aus Guantánamo Entlassenen sich (wieder) terroristischen Organisationen angeschlossen haben, überrascht Insider nicht.
Viel interessanter ist jedoch der Umgang Obamas und seiner Administration mit diesen Enthüllungen. Der Pressesprecher des Weißen Hauses zeigte sich wenig erfreut über die Veröffentlichungen, weil sie eine Debatte wiederbeleben, die der Präsident gerne vermieden hätte.
Vonseiten der arabischen Welt müssen sich die USA den Vorwurf gefallen lassen, mit zweierlei Maß zu messen. Während man im Falle Libyens auf Menschenrechtsverletzungen mit Luftschlägen reagiert und Syriens Präsident Assad für seinen “Umgang” mit oppositionellen Protesten im eigenen Land immer vehementer kritisiert und sogar mit verstärkten Sanktionen droht, toleriert Washington die Vorgänge in Guantánamo außerhalb rechtsstaatlicher Standards.
Innenpolitische Zwänge …
Innenpolitisch gerät der Präsident von beiden Seiten des politischen Spektrums unter Druck. Während die Linke in den USA zunehmend enttäuscht über Obama ist, reibt sich die Rechte die Hände und kann im aufkeimenden Vorwahlkampf zu den Präsidentschaftswahlen ein weiteres Thema besetzen, mit dem sie Obama vor sich hertreiben will. Der Umgang des Präsidenten mit der Auflösung Guantánamos muss daher vor allem unter innenpolitischen Gesichtspunkten analysiert werden.
Obama stehen dabei prinzipiell zwei Optionen zur Verfügung. Er könnte den liberalen Flügel seiner Partei befriedigen, indem er seine zu Beginn der Amtszeit angekündigte Auflösung des Gefangenenlagers tatsächlich umsetzt und Terroristen wie Khalid Sheikh Mohammed, den vermeintlichen Planer der Anschläge vom 11. September 2001, vor ein ordentliches Bundesgericht bringt.
Dass der Präsident nicht diese Variante gewählt hat, zeigte sich jedoch Anfang April. Am selben Tag, an dem er die Kampagne zu seiner Wiederwahl startete, verkündete das Justizministerium, den Prozess gegen den Mastermind der Anschläge nicht – wie immer wieder angekündigt – vor einem ordentlichen Gericht, sondern vor einem Militärtribunal zu führen.
Damit vollführte Obama innerhalb von zwei Jahren eine 180-Grad-Wende und erfüllt damit die Forderung der republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus, die sich vehement gegen die Abschaffung der Militärtribunale zur Wehr setzte. Süffisant kommentierte Mitt Romney, einer der potenziellen republikanischen Herausforderer im Kampf um das Präsidentenamt, diesen Schwenk auch als ein weiteres Zeichen der Wankelmütigkeit des amtierenden Präsidenten.
… und Deals für die Zukunft
Dieser zeigt mit diesem Meinungsumschwung einmal mehr, dass er nicht nur nach außen eine realistische Politik verfolgt. Sein Hauptaugenmerk liegt auf der Wiederwahl im nächsten Jahr und auf einem funktionierenden Verhältnis zu den Republikanern im Kongress, auf die er für seine innenpolitischen Vorhaben angewiesen ist. Diese Ziele opfert er nicht einem Kräftemessen mit politischen Gegnern um die vermeintlichen Rechte potenzieller Terroristen. Es geht Obama um Politik und seine Wiederwahl, nicht um Werte! Wer das nicht versteht, verkennt die Person Barack Obama. (DER STANDARD, Printausgabe, 28.4.2011)
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