America’s Decline

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Amerikas Abstieg

Von Horst von Buttlar

30.04.2011

Einst strotzten die USA vor Kraft. Doch der optimistische Grundton ist einem ängstlichen Knirschen gewichen, das man als Deutscher nur allzu gut kennt. Anzeige

Auf den ersten Blick: alles gut, alles wie immer. Noch immer ist alles viel zu groß, die Kühlschränke, die Fernseher, die Chipstüten, noch immer ist jedes Glas viel zu voll mit Eiswürfeln. Die Geländewagen haben das Ausmaß eines kleinen Reihenhauses, um das Soßenregal im Supermarkt abzuschreiten, plane ich einen Tagesmarsch ein.

Noch immer diese herrlichen Erzählungen: “And he was like: Hello? And I was like: Oh my God! And he was like: Yeah, right.”

Noch immer dieses Fernsehen, bei dem man nicht weiß, ob gerade Werbung läuft oder Nachrichten. Der öffentliche Nahverkehr: immer noch schlecht. Die neuen Staffeln von welcher Serie auch immer: grandios.

Natürlich hat sich auch vieles verändert: Auf den Toiletten in den Restaurants hängen jetzt Schilder, dass sich Angestellte “mindestens 20 Sekunden” die Hände waschen müssen, bevor sie zurück an die Arbeit gehen. Ein Teil des Plastikgeschirrs wird recycelt. Auf einem Cookie stehen jetzt die Kalorien.

Doch wenn ich genauer hinhöre in diesem Land, in dem ich seit Januar lebe, erkenne ich dieses Geräusch, mit dem ich in Deutschland aufgewachsen bin: Knirschen. Knirschen als Grundton der öffentlichen Debatte. Selbstzweifel, Angst, ewige Selbstbeschäftigung mit dem Abstieg. Untergang, überall.

Als ich 1995 für ein Jahr in den USA studierte, war die Kraft des Landes unermesslich. Die Sowjets waren verschwunden, die Inflation war niedrig, es gab Jobs, Jobs, Jobs, bald sogar Haushaltsüberschüsse, mehrere Jahre hintereinander. Alan Greenspan und Bill Clinton schienen den Heiligen Gral der Wirtschaft gefunden zu haben.

Im Fernsehen verfolgten wir den Prozess gegen O.J. Simpson, während mir ein Zimmernachbar aus dem College erläuterte, wie genau ein erfolgreicher Angriff gegen China laufen könnte. Dieses Land war so stark, bald würde es die Muße haben, sich voll und ganz auf einen Blowjob im Oval Office zu konzentrieren. Zu Hause, da warteten nur Helmut Kohl, “Reformstau” und der furchtbare “Standort Deutschland” – es gab viele Gründe, einfach hierzubleiben.

15 Jahre, zwei Spekulationsblasen und zwei Rezessionen später also der Abstieg der USA. Mal wieder, könnte man halb beruhigt sagen. In den 60er-Jahren hatten sie Angst vor den Sowjets und dem Sputnik, in den 80ern vor den Japanern mit ihrer überlegenen Technik.

“American decline – this time it’s for real”, versichert nun aber das Magazin “Foreign Policy” in einer Sonderausgabe, in der FT-Kolumnist Gideon Rachman (ein Brite!) über den Untergang schreibt. Er erinnert dabei an die Fabel von Äsop, in der ein Hirtenjunge aus Langeweile immer “Wolf”! schreit. Viele übersehen, sagt Rachman, dass der Wolf schließlich wirklich kam. “Und China ist der Wolf.” Viel größer als Japan, viel stärker als die Sowjets.

Nicht mehr mit dem Hammer draufhauen

Auch das “Time”-Magazin widmet Amerikas Untergang eine Titelgeschichte – immerhin mit einem Pro und Kontra. Das Pro kommt von Fareed Zakaria, Autor von “The Post-American World”. Es ist nicht das einzige Buch, das sich des Themas annimmt, man könnte derzeit einen ganzen Buchladen nur mit solchen Untergangsbüchern aufmachen. Die Harvard Universität in Cambridge Und alle sagen: This time is different. Die Chinesen sind überall, sie sitzen auf Billionen von Dollar, sie kaufen alle Rohstoffe weg, zuletzt sogar die heiligen Pekannüsse! “Die Chinesen wollen unsere Nüsse”, schlug das “Wall Street Journal” vor Kurzem auf Seite eins Alarm und enthüllte den zunehmenden fernöstlichen Massenaufkauf der “uramerikanischen Nuss”, die schon von George Washington und Thomas Jefferson angepflanzt wurde. (Als Deutscher dachte ich sofort: Ist doch gut für den Export.)

Die Asiaten – sie sitzen nicht nur immer öfter in den Hörsälen von Harvard, wo ihre Finger flinker als unsere über die Tastaturen der Apple-Macbooks fliegen. Klack, klack, klack, wie Marschmusik. (Diese mechanische Akkuratesse hat mich früher schon immer in der Klavierschule eingeschüchtert. Das waren damals aber die Südkoreaner, glaube ich.)

Der amerikanische Abstieg ist auch Thema in Vorlesungen. Ein Professor spricht über die “dritte Ära” seit dem Weltkrieg, die gerade begonnen habe. Die erste war die der New-Deal-Koalition, die von Franklin D. Roosevelt bis Lyndon B. Johnson reichte, Jahrzehnte des Wachstums, allenfalls unterbrochen von kleineren Rezessionen, aber geprägt vom festen Glauben, die Wirtschaft beherrschen zu können. Keynes regierte, und John Kenneth Galbraith schrieb über die “Überflussgesellschaft”.

Dann kamen die Ölkrise, die Stagflation und irgendwann Ronald Reagan, der die verunsicherten Reste der New Dealer sprengte und mit einfachen Sätzen alles auf den Kopf stellte. Die “Reagan-Ära” setzen einige Historiker inzwischen von 1974 bis 2008 an.

Nun also die dritte Phase, das Ende ist offen. “Wir sehen aber gerade die Anfänge der Schlachten, die künftig in diesem Land geschlagen werden. Und ihr”, sagt der Professor in Richtung 50 großer Augenpaare, “werdet entscheiden müssen, wohin es geht.” Schulden, Steuern, Gesundheit, soziale Sicherheit – seit Wochen tobt der Streit, und er wird noch lange weitergehen. “Das klingt wie ein Feuersturm”, sagt eine Studentin, so leise, dass man sie augenblicklich in den Arm nehmen möchte. “Was sollen wir denn als Erstes anpacken?”

Der Professor weiß es auch nicht. “Wir werden noch groß sein, aber nicht mehr der Größte. Wir werden nicht mehr mit dem Hammer an Verhandlungstischen sitzen können und ab und zu draufhauen, wenn es uns passt. Wir brauchen neue Werkzeuge.”

Natürlich sind nicht alle so pessimistisch. Es gibt sie noch: den unerschütterlichen Glauben ans Wachstum, die Coolness, die Kraftsprüche, die “We gonna fix it”-Parolen, aber manchmal weiß man nicht, ob sie einfach nur das Knirschen übertönen wollen. US-Präsident Barack Obama Die Vorbehalte gegen Barack Obama spürt und hört man hier jeden Tag. Gerade erst hat der Präsident erneut seine Geburtsurkunde zeigen müssen, an manchen Autoscheiben klebt neben den “Climate change is a hoax”-Stickern trotzdem der: “A village in Kenya is missing its idiot.”

Für viele hier ist Obama schuld an dem ganzen Desaster. Manchmal scheint es, als sei das Land gerade erst aufgewacht und stelle nun voller Schrecken fest, dass es 14.000 Mrd. Dollar Schulden hat.

Und doch: Ein Teil des Streits kommt mir seltsam bekannt vor: Gesundheitskosten (viel zu hoch), Renten (fressen uns auf), der öffentliche Sektor (aufgebläht) Steuern (zu hoch und zu kompliziert beziehungsweise zu niedrig und zu viele Schlupflöcher). Waren das nicht unsere Probleme, als Deutschland nicht mehr zu retten war? Haben wir damals nicht die USA gern zum Vorbild ausgerufen, und befassen sich nicht angeblich “70 Prozent der Steuerliteratur” mit dem deutschen Steuerrecht?

Auch in den USA ist der Streit um die Rolle des Staates nicht neu, im Grunde ist er so alt wie das Land selbst. Und deshalb geht es jetzt um Deutungshoheit, jeden Tag hauen sich Kommentatoren Geschichte um die Ohren. Bis zurück zu den 30er-Jahren. Als vor drei Jahren die Finanzkrise ausbrach, feierten viele das “Comeback von Keynes”. Die Republikaner um Paul Ryan wollen nun das sofortige Ende des Comebacks. Sie zitieren Friedrich Hayek, Ayn Rand und Milton Friedman. Nicht mehr Staat, weniger Staat. Es muss wehtun. “Pain, then gain”, sagen sie.

Neulich sagte ich in einem Seminar: “Ich glaube, die USA müssen die Steuern erhöhen. Besonders für die Reichen.” Oh Gott, hatte ich das gerade wirklich gesagt?

An einem Wochenende besuche ich Josh, einen Freund aus Collegezeiten, in Charlotte, North Carolina. Im Landeanflug sehe ich die Armeen des amerikanischen Traums, die endlosen Siedlungen, aufgereiht in Quadraten, wie aufgeschnürt auf Perlenketten, in Kreisen und Mustern, zwischen Wäldern, an Seen mit kleinen Stegen. Jeder Punkt ein Traum mit einer 30-Jahres-Hypothek. Ich sehe von hier oben nicht, welcher davon noch geträumt wird.

“The Age of Debt”

In Charlotte sitzt die Bank of America, hier sitzt Wachovia, all die Namen, die wir plötzlich mit Schrecken hörten. Die Skyline von Charlotte ist erst in den vergangenen 20 Jahren entstanden, das Gebäude der Bank of America ragt aus allem heraus. “Wie ein Mittelfinger. Oder eine Erektion” sagt Josh. Dann fahren wir raus in die Vororte, wo er ein Haus hat, zwischen den Tausenden anderen Vorstadttraumhäusern, die wir seit 2008 in den Nachrichten sehen. Natürlich mit Doppelgarage.

Nein, ich habe kein Haus, sage ich, als Josh fragt. Hamburg sei einfach zu teuer. “Du meinst, ihr kauft euch Häuser nur, wenn ihr sie euch leisten könnt?”, fragt Josh ironisch. “Das ist aber langweilig.” Lehman Brothers: Symbol des Finanzdesasters Er spricht über die “Wal-Mart-Kultur” seines Landes, alles zu groß, zu viel, zu unersättlich. “Erinnerst du dich noch, wie uns die Banken als Erstsemester mit T-Shirts umwarben? Unser Hals wird vollgestopft mit Kreditkarten, und plötzlich hast du 30.000 Dollar Schulden.”

“Deutschland ist derzeit ziemlich stark, oder?”, fragt er irgendwann. “Ich weiß nicht”, sage ich. “Zumindest sagen das viele Leute.”

Am Abend schauen wir alte Jahrbücher durch, ich sehe vergessene Gesichter und erinnere mich, wie mich diese Zukunftsfreude damals beeindruckt hat: Get a job. Buy a house. Make money. Es klang so einfach. Es klang gut.

Nun muss ich hier jeden Tag etwas über Schulden lesen. Wir Deutschen haben unsere Schulden ja immer in Waggons gepackt, die irgendwann bis zum Mond reichten. Bis zu welchem Stern gehen 14.000 Milliarden? Vielleicht wird in 100 Jahren in den Schulbüchern über diesem Kapitel mal “The Age of Debt” stehen – “Das Zeitalter der Schulden”.

Das Grauen ist auf beiden Seiten

Ich erinnere mich plötzlich dunkel, dass wir zu Hause ja auch so ein kleines Schuldenproblem haben. Fast vergessen. Vielleicht sollten einfach alle Europäer für ein paar Jahre in die USA ziehen und umgekehrt, dann verdrängen wir den Schlamassel zu Hause und sehen nur den Untergang der anderen.

So machen es die “Märkte” ja auch. Richten ihren Blick mal auf die USA und dann wieder “verstärkt auf die europäische Schuldenkrise”. Das klingt, als würde sich jemand aus dem Schlachtfeld von Verdun erheben und wieder “verstärkt den Blick auf den Ersten Weltkrieg richten”. Die Wahrheit hinter diesen Märkten, die ihre Blicke mal hierhin und mal dahin richten, ist viel banaler und furchtbarer: Das Grauen ist auf beiden Seiten.

Nein, dieses großartige Land wird nicht untergehen. Es gibt immer noch viele Gründe, einfach hierzubleiben. Es gibt eine Reality-Soap über einen Mormonen, seine vier Frauen und 16 Kinder. Auf Highways gibt es nicht nur Ausfahrten, sondern alle paar Meilen einen “Food Exit”. Wenn man zwei Sachen kauft, bekommt man immer noch eine umsonst. Es gibt große Häuser, große Autos, große Fernseher und wenig Neid.

Auch Europa wird nicht untergehen. Aber die großen Schlachten, das höre ich den Professor immer noch sagen, die werden auf beiden Kontinenten erst noch geschlagen. Und wir werden mittendrin sein.

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